1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 Das Bier auf dem Tisch, mittlerweile schal und schaumlos, traurig anzusehen.
Der Schnaps, ebenfalls unberührt, in einem kleinen, trüben Tulpenglas.
Beide standen sie da und warteten mit Hundeaugen auf ihren Einsatz, doch ich schaute sie nur an und bewegte mich nicht. In dem klaren Schnaps spiegelten sich die Augen des Mädchens der Bahnhaltestelle wider und ich schämte mich noch immer.
Erleichtert stellte ich fest, das Entsetzen des Mädchens, es machte mir sehr wohl etwas aus. Und ich beschloss, es zu ändern.
So sollte es nicht sein.
Hier würde sie enden, meine Selbstzerstörung, zumindest die schnelle Variante würde hier und jetzt enden.
Ich sah die beiden Lieblichen an.
Das eine groß und blond mit feinen Perlen auf der Haut und das andere kühl und klar, und alles in mir schrie; „Nimm sie dir!“ Doch ich ließ es sein.
Hier und jetzt war Ende.
Ich musste an Frida denken.
Aus einem anderen Leben, einer anderen Zeit, so weit weg wie der Mars, aber ebenso immer da und in meinen Gedanken.
Mai ´66 bis Oktober ´66.
Ich habe vorher und nachher auch geliebt, aber Frida in diesem Sommer, sie hatte mein Leben verändert und auf ewig ein brandmark in meinem Hippocampus hinterlassen.
Vom Jungen zum Mann: So war das, das hatte sie aus mir geformt. Es war die Zeit nach der Schule und vor dem Studium. Ein ganzer Sommer und das erste Mal überhaupt frei. Ohne Eltern, ohne Verpflichtung und ohne Zwang. Sorglos, wie es nur die Jugend zulässt. Sie und ich und ein paar Freunde, am Meer. Kein Geld, vier Zelte und Ängste unbekannt. Und sie, Frida, war so voll mit Leben, pure Leidenschaft und einschüchternd klug.
Sie war Esmeralda und ich der Bucklige.
Sie war wunderschön, neunzehn Jahre jung, bronzene, samtweiche Haut, kurz geschnittene schwarze Haare, braune Augen, kleine, feste Brüste und einen makellosen runden Po.
Ich war ihr vollkommen verfallen.
Sie trat in mein Leben und entschied, da zu bleiben.
Es gab keine Zweifel in ihrer Welt, keine Furcht, keine schlechte Erfahrung trübte ihre Sicht. Sie kam aus gutem Hause, wohlbehütet und machtvoll. Sie war eine pure, klare Seele, so wie es sein sollte. So wie wir es vielleicht alle gewesen wären, wären wir alle in ihrer Welt aufgewachsen. Neugierig, schlau und mutig, die perfekte Kombination für den Start in das Leben.
Und sie verschwand aus meinem Leben so schnell, wie sie eingetreten war.
Sechs Monate, in denen sie meine Welt komplett auf den Kopf gestellt hatte. Nie mehr wieder hatte ich in so kurzer Zeit so viel gelernt. Nie mehr wieder habe ich einen Menschen getroffen, der so unbefleckt und rein war. Ich hatte sie nie vergessen, auch später nicht, als Charlotte noch da war.
Dieser Sommer und Frida, das war die schönste Zeit meines Lebens gewesen. Nie zuvor und nie mehr danach habe ich mich so frei und gedankenlos gefühlt.
Und dieses Mädchen an der Bahnhaltestelle, sie war Frida, die Frida von damals – und ich, ich war ich.
Heute.
Zweiundvierzig Jahre. Alkoholiker und Verlierer. Und sie hatte Angst vor mir und ekelte sich. Was hatte ich wohl in ihr zerstört? Welche Selbstverständlichkeit in Frage gestellt? Ich fühlte mich hundeelend.
Eva Schulte schnippte wieder mit ihrem Mittelfinger und Daumen vor meiner Nase.
„Hey, Mulder! Sind Sie hier? Hören Sie mir überhaupt zu?“
Am liebsten hätte ich ihr ihre Finger gebrochen. Wer macht denn so etwas, mit den Fingern vor der Nase rumschnippen?
Und das gleich zweimal!
„Kommen Sie zur Sache“, nuschelte ich, während ich mir meinen Nacken massierte und versuchte, mich zu konzentrieren. „Was wollen Sie?“
Sie seufzte übertrieben genervt, sah mich wütend an, offensichtlich sauer, dass sie ihre zurechtgelegten Sätze nicht vollenden konnte, und fuhr fort: „Nun gut, keine Umschweife, ich verstehe.“
Wird Zeit, Schätzchen , dachte ich mir, nahm das Bier in die Hand, überlegte kurz und stellte es zurück.
„Wie ich gehört habe, sind Sie ein vortrefflicher Polizist geworden, nachdem man Sie ...“ Sie stockte.
Ich sah ihr scharf in die Augen.
„… ääh, nachdem Sie eine neue Karriere begonnen haben.“
Gut gerettet.
„Nun, ich bin hier, um Sie zu engagieren, also vorausgesetzt, Sie sehen sich überhaupt in der Lage zu arbeiten. Was meinen Sie?“
Doch ich verstand zunächst nicht.
„Was meine ich wozu?“ fragte ich.
„Wozu?“, fragte sie zurück. „Herrje. Hören Sie mir überhaupt zu? Dazu, dass ich Sie engagieren möchte. Sie sollen für mich arbeiten.“
Ich schnallte es immer noch nicht.
„Entschuldigung“, antwortete ich, „aber ich verstehe nicht.“
„Was verstehen Sie denn daran nicht? Also ehrlich, Mulder, ich mache mir langsam Sorgen, ob Sie überhaupt der richtige Mann für mich sind. Also gut, jetzt noch einmal für Blöde", sagte sie, verdrehte kurz ihre Augen, kam noch ein Stück näher heran, blickte mich direkt an und fuhr fort: „Ich möchte, dass Sie sich jetzt konzentrieren, Ihren Hintern hochkriegen, nüchtern werden und dann für mich den Mörder meines Sohnes finden!“
.
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Dauerte ne Weile, bis es bei mir ankam und dann:
Poff! Wie ein Tiefschlag in die Magengrube.
„Sie wollen, verdammte Scheiße, bitte schön was?!“, blaffte ich und lachte hysterisch auf.
Sie schreckte leicht zurück.
Der Barmann und die zwei Gestalten schauten auf, aber das interessierte mich nicht.
Ich schnappte nach Luft. Rang nach den richtigen Worten. Nahm meinen Kopf zwischen die Hände und versuchte, mir klar zu werden, ob ich möglicherweise doch träumte.
„Mann, jetzt beruhigen Sie sich wieder, alle schauen bereits her.“ Sie packte mich beim Arm und ich schreckte zurück.
Ich schaute an die Theke. Die drei Affen gafften mich an. In den Augen des Wirtes konnte ich lesen, dass er mit sich rang, ob er eingreifen müsse.
Ich versuchte, mich zu konzentrieren, um zu verstehen, was hier gerade passierte. Ich sah Eva Schulte an und hoffte, in ihrem Gesicht eine Antwort zu finden. Vermochte ich aber nicht. Sie war ganz ruhig.
„Wollen Sie mich fertigmachen?“, fragte ich dann. „Dafür hätten Sie den langen Weg nicht auf sich nehmen müssen, das bekomme ich schon gut alleine hin.“
„Beruhigen Sie sich bitte“, wiederholte sie, „es ist alles gut. Ich verstehe, dass Sie verwirrt sind. Vielleicht trinken sie erst einmal einen Kaffee.“ Sie winkte zum Wirt und rief: „Noch einen Kaffee bitte“, und drehte sich wieder um, starrte mir ernst in die Augen und sah ehrlich betroffen aus. Sie schaute mich an, wie sie wahrscheinlich einen Verrückten ansehen würde. Ein bisschen mit Bedauern, ein wenig ängstlich.
Der Wirt kam mit dem Kaffee, knallte ihn vor mir auf den Tisch, blickte mich schief an, und schlich sich wieder.
Unvorsichtigerweise nahm ich einen Schluck und musste würgen.
Sie glaubte wohl, ich hätte mich nur verschluckt, und tätschelte meine Hand.
„Geht es wieder?“, fragte sie.
Ich war mir nicht sicher, was ich antworten sollte – oder wollte.
Mann, ich war echt verwirrt.
„Also, so wie ich das sehe, Mulder, sind Sie ja wohl ziemlich am tiefsten Punkt angekommen.“
Ich war mir nicht sicher, ob das so war, ich hatte das Gefühl, da ging noch was. Aber ich musste eingestehen, für sie wird es wohl so ausgesehen haben.
„Ich verschaffe Ihnen einen Neustart. Sie helfen mir, ich helfe Ihnen. Ich gebe Ihnen eine Aufgabe und bezahle Sie dafür hiermit.“ Und schob einen Umschlag über den Tisch. Ich ließ ihn liegen, öffnete ihn nur mit Daumen und Zeigefinger und sah Geld.
Westmark.
Hundertmarkscheine.
Ich brauchte nicht zu zählen, es war eine verdammte Menge an Geld.
„Ich schätze, das können Sie über kurz oder lang gut gebrauchen. Sie sind suspendiert. Schauen Sie nicht so überrascht, natürlich weiß ich das. Also, Sie sind suspendiert und haben keine Ahnung, wie es mit Ihnen weitergehen wird. Sie haben einen Oberst des Staatssicherheitsdienstes angegriffen. Glauben Sie ernsthaft Sie werden hier je wieder als Polizist arbeiten dürfen? Nehmen wir mal an, und ich spekuliere jetzt nur mal so, ohne wirklich etwas zu wissen ...“, zog die linke Augenbraue hoch und ließ mich, damit Rätsel raten, wie viel sie wirklich wusste, „… nehmen wir mal an, die BRD und die DDR werden zu einem großen Deutschland wiedervereint. Glauben Sie, dass dort für einen versoffenen Ex-Polizisten aus dem „besiegten“ Osten, der zu Wutausbrüchen neigt, Platz sein wird?“ Sie lehnte ihren hübschen Kopf leicht zur Seite und sah mich mit fragenden Augen an.
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