„Ich bin kein Arbeitgeber, der einen festen Lohn bezahlt“, sagt Malcolm. „Also müssen wir uns schon auf eine Summe einigen. Bist du mit 50 Pfund pro Tag zufrieden? Bei – sagen wir mal – vier Stunden?“
50 Pfund. Dann hätte Sandra in nur 10 Tagen noch einmal 500 Pfund zusammen. Freudestrahlend stimmt sie zu.
„Das habe ich mir gedacht. Für Zwölffünfig die Stunde würde ich mir nicht mal die Schuhe anziehen.
Unwillkürlich schaut Sandra auf Malcolms Füße. Unter seiner weißen Hose schauen schwarze Sportschuhe mit weißen Streifen hervor. Sie sehen richtig teuer aus und haben sicher einen Preis, den Sandra dafür niemals ausgeben würde. In diesem Moment gesellt sich der Gedanke zu ihr, dass Malcolm sich wohl jeden Stundenlohn, den sie für sich für realistisch hält, leisten kann. Seine ordentliche, bis ins Detail gepflegte Erscheinung lässt diese Vermutung zu. Doch was ist für ihre Arbeit ein realistischer Stundenlohn? Für wie viel Geld in der Stunde würde Malcolm sich wenigstens seine Schuhe anziehen? Sie muss lächeln, als sie sich dazu entschließt, es herauszufinden. Unter den staunenden Blicken Malcolms, der wohl im ersten Moment vermutet, Sandra würde sich verabschieden wollen, verlässt sie ihren Sessel. Sein Erstaunen wächst, als sie sich vor ihm niederkniet, einen Fuß nimmt und den Schnürsenkel löst. Sanft streift sie ihm den Schuh vom Fuß, und dann die weiße Socke. Sie knetet seine Zehen mit beiden Händen und reibt über die Fußsohle und den Fußrücken.
Malcolm lacht laut.
Sie massiert ihn noch ein wenig mehr, nimmt den Schuh und weitet ihn. Sie zieht ihm die Socke an und stülpt ihm den Schuh genauso sanft über den Fuß, wie sie ihn abgenommen hat. Langsam und zart zieht sie den Schnürsenkel zu und bindet Knoten und Schlaufe. Sie setzt sich wieder in den Sessel und sagt: „Für welchen Stundenlohn würdest du dir so deine Schuhe anziehen?“
Malcolm holt tief Luft und antwortet mit seligem Grinsen: „Und du sagst, du hast keine Talente. Puh! Wären 50 Pfund die Stunde für dich in Ordnung?“
Bevor dieser Gedanke sie überwältigen kann, willigt sie ein. „Wollen wir unsere Handynummern tauschen? Dann kläre ich alles mit meinen Mitbewohnern ab, und wir machen einen Starttermin klar.“
„Eine gute Idee“, sagt Malcolm und zückt sein Handy. Während Sandra ihm ihre Nummer nennt, tippt er sie ein und speichert sie ab. Dann ruft er diese Nummer an. Als Sandras Handy klingelt, sagt er: „So, jetzt hast du auch meine Nummer. Ich warte also auf deinen Anruf.“
„Klar.“ So beschwingt wie nie, macht Sandra sich auf den Heimweg.
10. Kapitel – Post für Sandra
Vom Treffen mit Malcolm aus hat Sandra zuallererst ihre Großeltern aufgesucht. Sie musste ihnen einfach diese Neuigkeit überbringen, wusste sie doch, dass sie sich mit ihr freuen würden. Obwohl sie beim Auszug versprochen hatte, sie oft zu besuchen, war sie nun schon ein paar Tage nicht mehr da gewesen. Das hatte Brian nicht davon abgehalten, ihr 500 Pfund zu überbringen, ohne sie für ihre Unzuverlässigkeit zu tadeln. Wie sehr sie sich doch in ihnen getäuscht hatte, und wie weh das nun tat. Heute war sie endlich wieder einmal bei ihnen gewesen. Es war eine sehr schöne Unterhaltung. Am meisten hat Sandra begeistert, dass es Karen sichtbar besser ging. Ihr kam es so vor, als dass sie sicherer auf den Beinen war. Vielleicht würde sie bald keinen Stock mehr brauchen.
Nun sitzt Sandra wieder bei Gwynn und erzählt ihr von dem erfolgreichen Treffen mit Malcolm. „Er ist ein total lieber und interessanter Mann“, beendet sie den Vortrag.
„Er scheint dir gut zu tun“, flaxt Gwynn. „Du schwärmst ja richtig von ihm.“
„Nicht von ihm als Mann, sondern als Mensch, als Person, verstehst du?“
Gwynn grinst breit. „Na klar, als Person.“
„Jetzt hör auf damit“, schimpft Sandra. „Zwischen uns liegen mehr als 40 Jahre.“
„Ist das ein Hindernis? Er sieht doch locker 20 Jahre jünger aus, oder meinst du nicht?“
„Du bist unmöglich, Gwynn. Wir wollen keine Männer mehr, oder täusche ich mich?“
Sie hebt beide Hände und schüttelt den Kopf. „No way. Mir reicht’s.“
Vielsagendes Schweigen.
Nach einigen Minuten, die sie sich dem Blick auf den Bach hingeben, fragt Sandra: „Wo sind eigentlich die Kinder?“
Gwynn deutet mit dem Arm in Richtung Straße und unterstützt die Geste mit den Worten: „Boy veranstaltet für Jessica eine Sightseeingtour durchs Dorf.“ Nach einigen weiteren Momenten des Schweigens fügt sie hinzu: „Du möchtest also den Job bei ihm annehmen?“
„Unbedingt“, bestätigt Sandra mit unübersehbarem Schwärmen. „Was könnte mir Besseres passieren, als das?“
„Recht haste“, lobt Gwynn. „Du siehst ja auch großartig aus. Ganz anders als gestern Morgen. Das ist gut so, denn wenn du auf dem Weg zur Besserung bist, brauchst du ja den Brief nicht, der heute im Postkasten lag.“
„Welchen Brief?“
Gwynn erhebt sich schwerfällig, geht in die Küche und kommt mit einem Umschlag zurück in den Erker. „Den hier.“ Sie legt ihn auf den Tisch. Dann setzt sie sich und schiebt ihn noch ein wenig näher zu Sandra hin.
Zögerlich nimmt sie ihn auf. Er ist zwar an Gwynn adressiert, da der Absender aber die regionale Zeitung ist, in der sie die Anzeige aufgaben, ist er sicherlich für Sandra gekommen. Ihr zittern die Hände, als sie den Umschlag aufreißt und ein Schreiben herausnimmt, das mit einer Chiffre versehen ist.
„Eine Bewerbung auf deine Anzeige?“, fragt Gwynn.
„Ja“, antwortet Sandra.
„Nun mach schon, lies vor.“
Als ob Sandra die Aufforderung nicht gehört hätte, schaut sie sich den Brief von allen Seiten an. Die Rückseite ist unbeschriftet. Oben ist eine Notiz drangeknipst, die den Tag des Eingangs bei der Zeitung, die Chiffrenummer, den Absendetag an Gwynn, sowie Gwynns Adresse enthält.
„Was ist denn nun?“ Gwynn wird langsam zappelig.
Anstatt vorzulesen, fragt Sandra: „Wo um alles in der Welt liegt denn Pwllheli. Mein Gott, was für ein Zungenbrecher. Wie spricht man das denn aus?“
„Wie? Nochmal.“
Sandra buchstabiert: „P W L L H E L I.“
„Hört sich nach Wales an. Wenn es walisisch ist, dann heißt das wohl Pusshälli oder so ähnlich.“ Sie nimmt ihr Handy und googelt danach. Schnell hat sie es gefunden. Sie zeigt Sandra die Karte von Wales. „Da, direkt am Strand der Irischen See.“
„Weit weg“, meint Sandra.
„Ist auf jeden Fall nicht gleich um die Ecke“, bestätigt Gwynn.
„Wie kommt denn jemand aus Wales an die Anzeige?“, fragt Sandra.
„Nun lies doch endlich mal vor, dann wissen wir mehr.“
Sandra schüttelt den Brief ein wenig und holt tief Luft, als die Haustür aufgestoßen wird und die beiden Ausflügler in die Wohnung stürmen.
Jessica läuft auf ihre Mama zu und umschlingt sie in altbekannter Weise. „Schön, dass du wieder da bist. Hast du die Stelle bekommen?“
Sandra ist es gerade noch so gelungen, Gwynn das Schreiben zuzuschieben. Sie streichelt Jessica und antwortet: „Ja, meine Kleine, hab ich.“
Sie lässt Sandra wieder los und berichtet voller Enthusiasmus: „Stell dir vor, Boy hat mir ein Haus gezeigt, das hat gar kein richtiges Dach. Da liegt lauter Stroh drauf.“
„Das ist Riet“, antwortet Sandra. „Ich weiß, welches Haus du meinst. Wunderschön. Wir sollten mal einen Spaziergang dorthin machen. Was meint ihr?“
„Ja, kommt mit, ich zeig euch das Haus“, schlägt Boy vor.
Gwynn blickt auffällig unauffällig auf das Schreiben von der Zeitung, das sie in Eile zusammengefaltet und wieder in den Umschlag gesteckt hat. Sie ist neugieriger als Sandra auf den Inhalt.
Sandra nickt kurz. „Hast du noch ein paar Scones da?“, fragt sie.
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