Sandra nickt. „Ich weiß, ihr habt sicher sehr gelitten. Hat man noch mal was von ihr gehört?“
Brian winkt ab, während Karen den Kopf schüttelt. „Sie war ein schwer erziehbares Mädchen“, sagt sie. „Nächtelang wussten wir nicht, wo sie sich gerade aufhielt, und eines Tages verschwand sie für zwei volle Jahre – nach Berlin, wie sie uns später erzählte, weil sie angeblich ihre große Liebe kennengelernt hatte. Aber so groß kann sie nicht gewesen sein, denn sie kehrte ja reumütig zurück und brachte ein Kind mit. Dich. Du weißt das ja schon alles. Sie hatte sich wieder hier eingenistet, als wäre nichts gewesen, aber schon wenige Wochen später ist Ronda erneut abgehauen, diesmal für immer. Seither haben wir nichts mehr von ihr gehört. Dich hatte sie bei uns gelassen, einfach so. Nicht mal einen winzigen Zettel mit Nachricht hatte sie für uns übrig gehabt. Die beiden Alten werden sich schon drum kümmern, und ich bin dann mal weg. So in der Art.“ Während Karen das erzählt, stiert sie in eine andere Welt, in der offenbar gerade dieser Film abläuft.
„Als du plötzlich mit dem Kind aufgetaucht bist, da dachte ich, dieser Horror würde sich wiederholen“, erklärt Brian. „Karen hat aber schon genug Kraft verloren. Eine Wiederholung würde sie mit Sicherheit das Leben kosten, Sandra. Sie würde das nicht schaffen. Deshalb haben wir so reserviert auf deine Ankunft reagiert.“
Sandra nickt. „Ihr habt ja so recht. Das Ganze ist eine verhängnisvolle Verstrickung von Missverständnissen.“
Nach einer Pause fügt sie hinzu: „Darf ich euch noch was sagen?“
„Ja,“, antwortet Brian. „Lass alles raus, meine Kleine.“
„Ihr seid mir nicht böse, auch, wenn es vielleicht schwer zu begreifen ist, was jetzt kommt?“
„Nein“, beteuert Brian, „ganz bestimmt nicht. Wir haben uns ja jetzt ausgesprochen.“
Sandra ringt nach Worten, um die bittere Wahrheit so sanft wie möglich rüber zu bringen. „Ich wäre sicher niemals auf Dauer in Berlin geblieben“, beginnt sie. „Ich hatte immer den Wunsch, euch wiederzusehen. Dass ich aber gerade jetzt wieder hier bin, hat einen ganz besonderen Grund. Ich hatte tatsächlich gehofft, ihr könntet euch um Jessica kümmern, denn ich muss gehen.“
„Du willst wieder weg?“, fragt Karen.
„Ich muss“, antwortet Sandra. „Ich habe noch drei Monate zu leben.“
Die beiden Alten sagen nichts und schauen drein, als hätten sie es nicht verstanden.
„Ich habe Krebs. Die Ärzte geben mir noch bis Mai. Hoffentlich erlebe ich Jessicas Geburtstag noch.“
Die Großeltern bleiben stumm. Zu tief sitzt der Schock, als dass sie etwas sagen könnten.
„Ich möchte nicht, dass Jessi noch einmal in ein Heim kommt. Dieser Gedanke ist das Schlimmste für mich, schlimmer noch, als der nahende Tod. Dann habe ich gesehen, dass ihr damit überfordert wärt und habe eine Anzeige aufgegeben, mit der ich für sie Pflegeeltern suche.“
Brian erholt sich als erster und sagt: „Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Sandra. Deiner Oma geht es nicht anders. Aber ich bin überzeugt davon, dass du das einzig Richtige getan hast.“ Er wendet sich an Karen. „Hab ich recht?“
Nun ist auch Karen wieder imstande, ein paar Worte zu sagen. „Ja, dein Großvater hat recht. Und dass du sterben musst, kann ich einfach nicht glauben. Ärzte irren sich auch schon mal.“
„Ja“, pflichtet Sandra bei, „aber seit ich in Stonehenge nicht zum Zuge kam, glaube ich nicht mehr an meine Heilung. Mein Schicksal ist besiegelt.“
„Stonehenge ist nicht alles“, sagt Brian. „Gehe mal zu einem guten Arzt und lass dich untersuchen. Konsultiere einen Spezialisten. Wir bezahlen ihn.“ Er hebt seine Tasse an und fügt hinzu: „Euer Tee wird kalt.“
Drei Tassen werden zum Mund geführt und senken sich wieder wie eine.
„Vielleicht werde ich das wirklich tun“, sagt Sandra. „Ihr seid so lieb. Danke.“
„Wir lieben dich“, beteuert Karen. „Wir haben dich immer geliebt.“
„Ich euch auch. Alle beide. Und es ist für euch in Ordnung, wenn ich zunächst einmal bei Gwynn wohne?“
Karen schaut Sandra lange an. Dann nickt sie. „Solange du uns nicht vergisst.“
„Ich komme euch oft besuchen, versprochen.“
„Pass gut auf dich auf. Opa kann dir helfen, euer Gepäck runter ins Dorf zu bringen.“
Brian nickt, leert seine Tasse und erhebt sich. „Dann lass uns gehen, bevor der Regen mehr wird.“
8. Kapitel – Veränderungen, und auch wieder nicht
Nach ein paar Regentagen, in denen sich Sandra und Jessica so häuslich eingerichtet haben, wie irgend möglich, kommt die Sonne zum Vorschein und lässt den Bach wunderbar freundlich aussehen. Sie spiegelt sich in der recht ruhigen Wasseroberfläche und verpasst ihm eine einzigartige Lebendigkeit. Es ist nun ein paar Grad wärmer, als vor dem Regen. Obwohl es erst Ende Februar ist, liegt ein Hauch von Frühling in der Luft.
Boy ist mit Jessica unterwegs. Er zeigt ihr ein bisschen was vom Dorf. Für seine Freundin, die bisher nur die Großstadt Berlin gesehen hat, ist diese kleine mittelalterliche Siedlung mit ihrer Ruhe und Beschaulichkeit ein kleines Wunder. Sie laufen zusammen die Dorfstraße hinauf, am Unicorn Lodge vorbei zur Mitte, wo sich auf dem ehemaligen Marktplatz ein auf vier Pfeilern ruhendes Dach seines Daseins erfreut. Unter dem Dach sind um eine Säule in der Mitte herum steinerne Bänke angebracht. Boy nimmt Jessica an der Hand und hüpft mit ihr die drei Stufen hinauf zu den Bänken. Sie lassen sich drauffallen. Boy legt seinen Arm um Jessicas Schultern, wie er es auch bei einem Kumpel aus der Schule tun würde. Während seine Hand den Oberarm seiner Freundin tätschelt, erklärt er: „Das war einmal der Dorfbrunnen. Hier haben die Leute früher Wasser geholt. Da gab es noch keine Wasserleitung.“
Jessica schaut sich um. Nichts deutet mehr auf einen Brunnen hin. „Und wo ist das Wasser jetzt?“, fragt sie.
Boy gibt fachmännisch Auskunft. „Ich glaube, in der Leitung.“
„Das ist auch viel praktischer“, weiß Jessica. „Sonst müssten wir es ja mit Eimern nach unten tragen.“
Sie geben sich dem wunderbaren Anblick der leeren Dorfstraße hin, durch die nur selten ein Auto fährt. Jessica deutet zum Ende der Straße hin, wo Gwynns Haus zu erahnen ist und schwärmt: „Da unten wohnen wir jetzt. Wie schön.“
Boy drückt Jessica noch fester an sich. „Ich freu mich, dass du da bist.“
„Ich mich auch. Was unsere Mamas wohl gerade machen?“
Diese sitzen auf einer Bank vor dem Haus. Die wärmende Sonne hat die beiden Frauen in Freie gelockt.
Als schweres Geläut von der nahen Kirche aus dem 12. Jahrhundert herüberklingt, schaut Gwynn auf die Armbanduhr. „Schon Zwölf“, sagt sie. „Boy und Jessi werden bald wieder hier sein. Soll ich uns was in den Ofen schieben? Pizza?“
„Die Kinder haben sicher Hunger“, erwidert Sandra betrübt.
„Nun komm, lass dich nicht so hängen. Willst du mir nicht sagen, was los ist? Wir haben so ein tolles Wetter. Kein Grund, Trübsal zu blasen.“
Sie hebt die Schultern. „Schon Ende Februar.“
Gwynn tut so, als verstünde sie nicht. „Ja, und?“
„Bald ist Mai.“
„Das bedeutet gar nichts.“ Gwynn, die bisher wie Sandra geradeaus auf den Bach geschaut hat, klatscht in die Hände und wendet sich spontan ihrer Freundin zu. „Weißt du was?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fügt sie hinzu: „Ich habe heute und morgen frei, und Boy hat noch zwei Tage Ferien. Lass uns das ausnutzen. Damit du auf andere Gedanken kommst, fahren wir heute Nachmittag nach Bath. Wir nutzen das warme Wetter aus und machen uns einen schönen Tag. Wir können eine Stadtrundfahrt mit dem Bus machen, vorher setzen wir uns in ein Café, und am Abend essen wir was Feines. Na, wie wäre das.“
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