„Ja, komm, Mama, lass uns nach Bath fahren. Bitte!“
Sandra erhebt sich schwerfällig. „Was soll ich denn noch mit einem Handy?“
Gwynn dreht die beiden Kinder um in Richtung Haus und schiebt sie ein wenig an. „Geht schon mal vor, wir kommen gleich“, fügt sie hinzu. Dann wendet sie sich wieder an ihre Freundin. „Was soll das denn nun schon wieder? Du erinnerst dich noch, worüber wir die Tage gesprochen haben? Dass die Aussage eines Arztes nicht die endgültige Wahrheit sein muss?“
„Erinnerst du dich denn noch daran, dass meine Anfälle nicht abreißen?“
„Wenn du so pessimistisch bist, meine Liebe, dann besorge dir halt eine Prepaid-Karte. Es muss ja nicht gleich ein Vertrag mit Laufzeit sein.“ Sie legt ihr die Hand auf die Schulter. „Was ist jetzt, fahren wir? Na, komm schon, hm?“ Und als Sandra nicht antwortet: „Na siehst du. Auf geht‘s, machen wir uns fertig.“
Nach anfänglichen Vorbehalten seitens von Sandra gegen eine Fahrt nach Bath, sitzen die Vier nun nach einer Sightseeingtour und einem Besuch im Handyshop in einem der zahlreichen Restaurants am Fenster und genießen wortlos den Blick auf den Fluss Avon. Sandra hatte schon als Jugendliche immer mal den Drang verspürt, es sich in den römischen Bädern, gespeist von warmen Quellen, gutgehen zu lassen, aber dazu war es nie gekommen. Sie glaubt nicht daran, es in diesem Leben noch einmal nachholen zu können. Immerhin geht es ihr nun besser als am Vormittag, als sie sich in einer sehr düsteren Verfassung befunden hatte. Grund dafür war das bärtige, geifernde Gesicht dieses besoffenen Tiers, das vor zehn Jahren wie von Sinnen auf sie eingestochen hatte, bis die anderen beiden den Kerl von ihr runter rissen und mit ihm flüchteten. Genau dieses Gesicht war auch im Flug nach Bristol aufgetaucht, nicht wie sonst als Halluzination, sondern live. Der Mann war in der Maschine an ihr vorbeigegangen und hatte sie angeschaut. Der Albtraum hatte sich damit ein Höchstmaß an Lebendigkeit verschafft.
In ihre geistige Abwesenheit hinein schallt die Stimme der Bedienung wie aus einer anderen Welt. „War alles in Ordnung? Kann ich abräumen?“
Gwynn nickt. „Ja, super.“
„Darf es sonst noch etwas sein?“
Gwynn schaut in die Runde. Alle schütteln den Kopf. „Ich glaube, das war’s“, antwortet sie. „Wenn Sie uns die Rechnung bringen würden?“
„Selbstverständlich.“
Bevor Gwynn noch etwas sagen kann, klingelt ihr Handy. Sie kramt es aus der Tasche, die über der Rückenlehne des Stuhls hängt, und meldet sich mit einem knappen „Ja.“ Sandra geht davon aus, dass sie den Anrufer kennt. Schon schaut Gwynn sie an und sagt: „Ja, die ist bei mir. Soll ich sie dir geben? – Moment.“ Sie streckt Sandra das Handy entgegen mit den Worten: „Hier, für dich.“
Sandra nimmt es umständlich mit beiden Händen entgegen und fragt erstaunt: „Für mich? Wer ist es denn?“
„Nun geh halt ran, dann weißt du es“, drängt Gwynn.
Sandra führt das Handy ans Ohr. „Mr. McKell“, entfährt es ihr. „Was kann ich für Sie tun? – Nein, heute eher nicht mehr. Wir sind gerade unterwegs. Reicht es auch morgen noch? – Das ist super. Morgen um Neun passt gut. Ich bin pünktlich.“ Sie reicht Gwynn das Handy zurück. Diese vergewissert sich, dass Duncan aufgelegt hat und steckt es weg. „Was wollte er denn von dir?“, fragt sie mit aus den Augen strahlender Neugier.
„Er möchte mich einem Mr. Malcolm House vorstellen. Sagt dir der Name was?“
„Ja, natürlich“, gibt Gwynn zurück. „Du hast ihn auch schon gesehen. Als du den Termin mit Duncan hattest, verabschiedete er ihn gerade in der Hotelhalle. Erinnerst du dich? Ich glaube, da bahnt sich was für dich an.“
Die Bedienung tritt heran und legt einen Kassenbon auf den Tisch, den Sandra sich sofort schnappt und den Geldbeutel zückt. „Ich übernehme das“, sagt sie. Als Gwynn protestieren will, legt sie den Zeigefinger auf den Mund und schüttelt den Kopf. Dann zaubert sie einen Schein hervor, drückt ihn der Bedienung in die Hand und sagt: „Stimmt so.“
Auf dem Weg nach draußen fragt Sandra: „Wer ist denn dieser Malcolm House?“
„Du kennst Malcolm House nicht?“, fragt Gwynn verwundert zurück. „Na gut, woher auch! Er ist ein sehr bekannter Konzertpianist, ein guter Freund von Duncan und permanenter Gast im Golfclub. Vor ungefähr zwei Jahren hat er sein Haus in Bristol verkauft. Seither bewohnt er eine Suite und lässt es sich gutgehen. Geld genug hat er ja bestimmt. Er ist alleinstehend, dürfte so zwischen 70 und 75 sein und hat seinen Beruf an den Nagel gehängt. Das Klavierspielen kann er aber trotzdem nicht lassen, weshalb er abends manchmal im Club sein Können beweist. Es ist immer wunderschön, wenn er was spielt.“
Sandra denkt laut nach. „Was wird er denn von mir wollen?“
„Sicher will er dir zeigen, wie man Klavier spielt“, antwortet Jessica.
„Das wahrscheinlich eher nicht“, gibt Sandra lachend zurück. „Auf jeden Fall bin ich sehr gespannt drauf, was er vorhat.“
„Genau. Und jetzt hast du ein Handy mit Prepaid-Karte, dein erster Schritt auf dem Weg zur erfolgreichen Geschäftsfrau.“
Jessica und Boy sind ein paar Yards vor ihren Müttern und necken sich gegenseitig. Sie sind so sehr mit sich beschäftigt, dass Sandra sicher sein kann, dass sie ihre Frage an Gwynn nicht hören werden. Trotzdem flüstert sie: „Apropos Handy. Hat schon jemand wegen meiner Anzeige angerufen?“
Gwynn schüttelt den Kopf. „Nein, niemand. Ein Zeichen dafür, dass du niemanden brauchen wirst für Jessica. Nur du kannst ihr die beste Mutter sein.“
„Da gebe ich dir recht. Aber das ändert nichts an den Tatsachen.“
Gwynn nimmt Sandra an der Hand, bleibt stehen und dreht sie zu sich hin. „Ich will dich nicht verlieren.“
Der Satz trifft Sandra mitten ins Herz, und auch, wenn sie für sich keine Genesung mehr sieht, nickt sie.
Nach einer geruhsamen Nacht ohne Störungen durch den nächtlichen Verfolger betritt Sandra pünktlich um Neun die Hotelhalle und hält schnurstracks auf die Rezeption zu. Ihr Herz pocht in freudiger Erwartung auf das, was sich ihr offenbaren soll. Die Empfangsdame weist auf eine braune Ledersitzgruppe neben dem Eingang und bittet Sandra, noch ein wenig Platz zu nehmen. Sie folgt der Anweisung und vertreibt sich die Zeit mit einem Prospekt des Hauses, das auf dem Tisch liegt. Wenig später kommt Malcolm House auf sie zu. Sandra möchte aufstehen, aber Malcolm drückt sie nieder, streicht über ihre Hand, die er sich vom Tisch angelt und meint: „Bleib sitzen. Ich bin Malcolm House. Nenn mich Malcolm, ja?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, lässt er sich in einem Sessel nieder, winkt in Richtung Rezeption und schnippt mit den Fingern. Als die Frau reagiert, spreizt er Daumen und Zeigefinger auseinander und signalisiert damit die Zahl Zwei. „Du trinkst doch einen Tee mit mir?“, fragt er, und als Sandra nickt, hebt er zur Bestätigung noch einmal den Daumen. Das Hotelpersonal hat seine Signalsprache in den zwei Jahren, die er hier wohnt, bestens verinnerlicht, und seine Wünsche werden zu Malcolms vollster Zufriedenheit ausgeführt. Natürlich erfreut er sich als gut zahlender Dauergast gewisser Hoheitsrechte, aber auch ohne seine Bekanntheit wäre hier der Service 1A. Malcolm deutet auf das Prospekt. „Wunderschön hier, nicht wahr?“ Er wartet Sandras Meinung erst gar nicht ab und fügt hinzu: „Natürlich hab ich recht. Es gibt keinen schöneren Platz auf Erden, als diesen gepflegten Golfclub. Ich habe ihn bereits vor 20 Jahren kennengelernt, als ich anfing, Golf zu spielen und noch nicht mal wusste, was ein Caddy ist. Inzwischen macht mir da keiner mehr was vor. Mein Gott, wie oft ich am Anfang den Ball suchen musste.“ Er schlägt sich lachend vor die Stirn, und Sandra muss unwillkürlich mitlachen. „Da draußen gibt es einen Teich. Hast du den schon gesehen? Wahrscheinlich nicht. Da hatte ich meinen Ball einmal versenkt. Zwar nur etwa zwei Handbreit tief, aber er war unter Wasser. Es hat meine Hose und die Schuhe ruiniert und mich viel Zeit gekostet, ihn wiederzufinden, und dann brauchte ich 20 Schläge, um ihn aus dem Wasser heraus zu katapultieren und an Land zu befördern. Das war kein guter Tag. Spielst du Golf?“
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