Karen hatte immerhin noch gefragt, wie der Termin denn verlaufen wäre und wo er stattgefunden hätte, aber ansonsten sprachen sie nur über Belanglosigkeiten. Alle Seiten waren darum bemüht, Streit zu vermeiden und sich möglichst sachlich zu geben, was Brian dadurch gelang, dass er seine Beteiligung an der Unterhaltung auf das Nötigste beschränkte.
Die Einzige, die wirklich ungezwungen war, war Jessica, was nicht bedeutet, dass sie sich ihrer bekannten Fröhlichkeit hingegeben hätte. Sie vermisste Boy.
Nun liegen sie wieder zusammen im Bett und kuscheln sich aneinander. Der Kamin wärmt wie schon am Tag zuvor das Zimmer, nur der Mond, der gestern noch durchs Fenster schien und zusammen mit einer Straßenlaterne ein wenig Licht spendete, fehlt. Der Himmel ist bewölkt, die Wolken verdecken den Trabanten.
Jessica ist absolut ruhig und bewegt sich nicht in Sandras Arm. Als sie sich, geschlaucht von den Ereignissen des Tages, von ihr lösen und zum Schlaf umdrehen möchte, sagt sie: „Mama, kennst du Liebe?“
Diese Frage verpasst ihr einen Stich durchs Herz. Sie muss sich eingestehen, dass sie noch niemals so richtig Liebe kennengelernt hat. Was soll sie dem Mädchen antworten? Dass es ohne Liebe auf die Welt gekommen ist? Jessica hat schon hin und wieder nach ihrem Vater gefragt, hat gesagt, dass andere Kinder doch auch Väter hätten, nur sie nicht, und sie wollte wissen, warum das so ist. Neben der Unwahrheit bezüglich ihrer Krankheit war die Aussage über Jessicas Vater die zweite Lüge, die Sandra ihrer Tochter bisher zugemutet hat. Es tut ihr jedes Mal in der Seele weh, wenn sie das Kind anlügt. Sie beruhigt sich aber immer damit, dass es doch Notlügen seien, die nur dazu da sind, größeren Schaden von der geliebten Tochter abzuwenden. Um die Klippe zu umschiffen, fragt sie: „Was meinst du damit?“
„Weißt du, wie das ist, jemanden zu lieben“, fragt Jessica und fügt hinzu: „Ich zum Beispiel liebe Boy.“
Sandra ist froh, eine Chance zu haben, nicht auf die erste Frage antworten zu müssen und meint: „Ihr kennt euch doch noch gar nicht so richtig.“
„Doch, das tun wir. Und wir wollen immer zusammenbleiben.“
Sandras Herz erfährt einen zweiten Stich. Was, wenn sich auf die Anzeige jemand von weiter weg meldet? Aus dem Norden Englands, zum Beispiel. Was, wenn sie Jessica und Boy trennen müsste, womit das Kind zum ersten Mal Trennung erführe, um sie ein paar Monate später noch einmal zu erleben? Unwillkürlich nimmt sie Jessica fester in den Arm. „Du bist doch noch viel zu klein dafür“, sagt sie. „Und jetzt lass uns schlafen, ja? Es war ein anstrengender Tag für mich.“
„Wir lieben uns und werden heiraten“, bestimmt Jessica. „Und du und Gwynn werden auf die Hochzeit eingeladen.“
„Das ist ganz lieb von dir, meine Kleine. Aber erst schlafen wir, okay?“
„Gehen wir morgen wieder zu Gwynn und Boy?“
„Ja.“
„Versprochen?“
„Ja. Aber warum ist er eigentlich zuhause? Sind gerade Schulferien?“
„Das weiß ich nicht.“ Jessica löst sich nun selbst aus dem Arm ihrer Mutter und dreht sich rum. „Mir egal. Ich freu mich auf ihn! Gute Nacht.“
„Gute Nacht.“
Als Sandra gestern spontan bei Gwynn aufgetaucht war, um sich ihr Auto zu leihen, da hatte ihre Freundin erklärt, dass sie spätestens um neun auf den Beinen sei, schon wegen Boy, der dann sein Frühstück erwarte. Tatsächlich finden gerade die Frühlingsferien statt. Doch wenn sie beendet sind, dann fährt Boy wieder täglich früh zu Schule nach Kingsham und kommt abends gegen 17 Uhr zurück. Das würde eine eventuelle Trennung ein wenig einfacher gestalten. Aber zurzeit sind noch Ferien, und irgendwann müsste ja auch Jessica eingeschult werden.
Sie sitzen wieder zu viert in Gwynns so gemütlichem Erker und machen sich über ein original englisches Frühstück her, das Sandra und Jessica bisher nur vom Hören-Sagen kennen. Selbst Brian und Karen hatten es nie serviert. Nun aber erleben sie es mit allen Sinnen. Nachdem Gwynn und Boy gebratenen Speck, Rührei, rote Bohnen und Würstchen auf die Teller, und Tee in die Tassen verteilt haben, greifen alle vier zu knusprig frittierten Toastscheiben und lassen es sich schmecken. Gwynn weiß noch nichts vom Ausgang des Bewerbungsgesprächs. Noch hat Sandra kein Handy, mit dem sie es ihr hätte mitteilen können.
Als der Tisch wieder abgeräumt ist und die Kinder in Boys Zimmer verschwunden sind, fragt Gwynn: „Und, wie ist es gelaufen?“
Sandra nippt an ihrem Tee und winkt ab. „Es war total lieb von dir, mir diesen Termin zu verschaffen, aber da wird nichts draus.“
„Warum nicht?“
„Zuerst war ich ziemlich beleidigt, als Duncan mir einen Putzjob im Spa-Bereich nicht zutraute, aber dann hab ich es am eigenen Leib zu spüren bekommen. Gwynn, ich hatte wieder einen Anfall. Mein Gott, war das peinlich. Dabei erkannte ich, dass ich dieser Aufgabe nicht gewachsen wäre.“
„Oh, dieser McKell“, schimpft Gwynn. „Der soll sich nicht so anstellen. Du wirst dich erholen, und dann kannst du deine 100% geben. Das wird schon, ich rede mit ihm.“
Sandra schüttelt den Kopf, noch während sie am Tee nippt. „Nein du, lass mal. Es hat keinen Zweck. Es liegt nicht an Duncan, wirklich. Schade ist nur, dass ich nicht wie geplant in eine neue Bleibe umsiedeln kann. Bei meinen Großeltern fühle ich mich überhaupt nicht wohl.“
„Dann kommt ihr halt zu mir“, sagt Gwynn spontan.
„Du hast doch gar keinen Platz für uns“, gibt Sandra zu bedenken.
„Platz ist in der kleinsten Hütte. Wir rücken ein wenig zusammen, ihr zieht zu mir und fertig.“
Sandra kennt Gwynn gut genug, um zu wissen, dass sie von ihren Ideen so leicht nicht abzubringen ist. Trotzdem stichelt sie weiter, vielleicht auch nur, um immer wieder überstimmt zu werden. „Und selbst, wenn wir zusammenrücken: Ich verdiene kein Geld, habe gerade noch 50 Pfund, und du kannst nicht für vier Leute arbeiten gehen. Nein, das will ich nicht. Da bleibe ich lieber bei Oma und Opa. Die können es sich leisten, mich und Jessi durchzufüttern.“
„Mein Gott, wie kann man nur so stur sein. Würden die dich ohne Murren noch ein paar Monate, oder vielleicht sogar ein ganzes Jahr lang ertragen? Oder besser: Willst du deine Großeltern noch so lang ertragen müssen? Das geht in die Hose, Sandra. Ihr kriegt euch in die Wolle, weil ihr so verschieden seid. Aber wir verstehen uns, haben uns noch nie gestritten, und wir werden die Einschränkungen aushalten, bis sich was Neues ergibt.“
Sandra gönnt sich einen tiefen Atemzug. Wie gut das tut, mit der besten Freundin auf gleicher Ebene zu sprechen. Wie gut das tut, nicht vergessen worden zu sein in 13 Jahren ohne Kontakt. Das ist echte Freundschaft. Es würde sie mehr auf die Probe stellen, ihr Angebot nicht anzunehmen, als es anzunehmen. Sandra haut leicht auf den Tisch und sagt: „Abgemacht. Unter einer Bedingung!“
„Abgemacht, unter keiner Bedingung. Geh zu deinen Großeltern und hol deine Sachen.“
„Mach ich gleich. Sag mal, ist Duncan eigentlich verheiratet?“
Gwynn schüttelt den Zeigefinger. „Du stellst Fragen.“
Sandra winkt ab. „Nicht, was du denkst“, sagt sie. „Ich habe aber den Eindruck, dass er ein zärtlicher Mann ist. Als ich mit dem Anfall vor der Toilette kniete, da hatte er mir den unteren Rücken gerieben, und das war richtig gut. Irgendwie ist er ein besonderer Mensch.“
„Und verheiratet“, antwortet Gwynn. „Und jetzt geh eure Sachen holen.“
Als Sandra zum Unicorn Lodge zurückgeht, regnet es. Jessica hat sie bewusst bei Boy gelassen. Sollte es zu einem unschönen Gespräch kommen, dann lieber ohne sie. Der Weg von Gwynns Haus zum Lodge ist nicht sehr weit. Sandra wird vom Regen nur leicht besprenkelt. Als sie an die Haustür klopft, sieht sie wieder die Gardine wackeln, so, wie sie schon bei ihrer Ankunft verriet, dass Brian sich einen Überblick darüber zu schaffen pflegt, wer bei ihm Einlass begehrt, oder was sich gerade auf der Straße tut. Kurz darauf sitzen sie zu dritt im Wohnzimmer, Brian mit der Zeitung auf dem Sofa, und Karen mit dem Stock im Sessel. Sandra, die davon ausgeht, ihre Großeltern mit einer freudigen Nachricht zu beglücken, bricht mit der Neuigkeit förmlich heraus. „Stellt euch vor, ich habe eine neue Bleibe. Ich hole meine Sachen ab, und dann seid ihr mich los.“
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