Daheim hatte sich die Wut gelegt. Die nach Innen gerichtete Wut. Vielleicht hatte Marianna recht, dachte Malin. Damit, dass alles im Leben hilfreich ist. Aber dazu gehört die Ausgewogenheit. Die Resilienz ist ein Begriff, den die Psychologie aus der Physik übernommen hat. Die Fähigkeit eines Menschen, wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren nach einem Stoß. Eine hohe Resilienz ist ähnlich einer hohen Frustrationstoleranz, dann ist eine niedrige Resilienz dann gegeben, wenn jemand über den Tod eines Menschen nicht hinwegkommt.
Als Werwolf-Vampir, als Wrukola jemanden zu beißen, ist ein Stich geradewegs ins Herz - alle 28 Tage. Ich sage es mal als Erzähler: Wenn die Lohnzahlung einmal im Monat reicht, um weiter einen blöden Job zu machen, was es oft tut. Dann reicht ein Blutsaugen einmal im Monat für den Selbstmordgedanken allemal. In der Phantasie ist ein Vampir oder Werwolf eine liebevolle Spinnerei. Es gibt genug Menschen, die sich vorstellen können, als Vampir jemanden zu beißen – die selbst beim Nägelschneiden extrem empfindlich sind. Aber es real umzusetzen ist etwas völlig anderes. Jemanden beißen bis aufs Blut. Die rote Flüssigkeit dann aufsaugen...
Es wäre vielleicht begreifbarer, wenn wir so essen würden, wir beißen lebendig zappelnden Tieren z. B. den Kopf ab. Macht man in einigen Gegenden der Erde. Aber wir tun das aus gutem Grund nicht. Nichtmal selbsternannte Kannibalen beißen einfach so den anderen. Es ist eine innere Hemmung.
Natürlich hatte die Polizei den Computer von Sandu mitgenommen. Aber Malin konnte Sandus Unterlagen durchsuchen mit Hilfe der Information, dass es da Parties gegeben hat, „mit Essen“, sie fand einen Flyer. Und vermutete da gleich viel mehr. Der Name des Veranstalters war da mit drauf, ein Roman Maurer. Und als sie dessen Namen googelte, war er der Vorsitzende des Vereins „Affen für Menschen“. Es war das, was sie gesucht hatte, sie würden dort wahrscheinlich Affenblut trinken. Menschen zu töten, um das Blut zu trinken, das würde viel Polizeiarbeit nach sich ziehen. Damit kommt man nicht lange durch. Aber Affen schon eher. Affen für Menschen = AFM, war ein Verein, der auch für Manager und andere gegen Geld Treffen mit Affen organisierte. Weil, laut Website „Affen sind menschenähnlich intelligent – aber ungleich verspielter“. Sie würden einfach spielen wollen und den Managern eine andere Sichtweise auf das Leben und die Lebensfreude liefern. Und, was wichtig war: „es sind ausgesuchte lebensfrohe Affen.“ Das AUSGESUCHTE war es. Das Signalwort, wenn man weiß, was man zu suchen hat. - Das heißt, die depressiven Affen würden dann verfüttert.
Sie schrieb dem R. Maurer, sie sei eine Freundin von Sandu und sie würde gerne auch auf so eine Party gehen. Er fragte per Mail noch am gleichen Tag, wie eng sie mit Sandu befreundet war. Antwort: „Sehr enge Freunde. Bis aufs Blut. Wir hatten die gleichen Interessen. Essen. Veranstaltungen am Vollmond. Mit energetischem Wasser, das nur an Vollmond der Quelle entnommen wird. Und anderer Spezialnahrung, die an Vollmond besser wirkt.“ (Anmerkung des Schreibers: Das mit dem Vollmondwasser gibt es wirklich, es wird in Bioläden verkauft...)
Und, am Donnerstag, siehe da: für die nächste Party hatte sie eine Einladung. Es ging in ein Lagerhaus bei Ingolstadt. Am 9.9 9ter September, ein Samstag um genau 0 Uhr. Es ist der internationale Tag der Ersten Hilfe, wurde sie aufgeklärt. Sie verstand es damals noch nicht ganz, sie sah es als den Tag der Blutspendens. (Und als Autor sage ich, es ist der zweite Septembersamstag - der Tag der deutschen Sprache.) Ein Kostümfest „mit speziellen Getränken.“ Roman schrieb ihr noch, es ging am Mitternacht los, am Ende des 8. September los, dem Welt-Tollwuttag.
Nein, sie würde Kommissar Toni Fuchs nichts davon sagen. Es ging hier nicht um Gefängnis, es ging um ihr Leben! Wenn er es erfahren würde, würde er sicher wütend werden. Eine solche Party auszuheben wäre DER Karriere-Sprung. Aber dieses Risiko würde sie eingehen! Sie musste vorsichtig sein...
Für den Abend des Donnerstags hat sie Bettina zu sich zum Kaffee eingeladen und hat ihr alles erzählt, von Sandu, dem Kommissar, vom Vampirdasein.
„Ich stand da vor der Kirche und mir wurde klar, so will ich nicht leben“, schloss Malin trocken. „Manche würden sagen, ich wurde durch die Story erwachsen. Ich sage, ich wurde zum Blutsauger. Und ich werde das nicht zulassen! Verkaufe die Tränen und Träume deiner Jugend nicht als Anekdoten, heißt es. Und ich habe es gemacht. Egal. Erheitere Partygesellschaften nicht mit deinem Versagen als disziplinierter und kultivierter Mensch, heißt es. Und ich habe es gemacht. Egal. Aber ich werde es auf gar keinen Fall zulassen. Dass ich jeden Monat den Arsch spiele und beiße. Fürs Heilen? Für NIEMANDEN! Selbstmord.“
„Das ist nicht so einfach“, gab Bettina, erschrocken, zu bedenken. „Ich kenne wen, der stand auf dem Gleis als der Zug kam. Und ihm wurde klar, er wollte noch nicht sterben. Und ist ganz knapp vor dem Zug wieder runter.“
„Ich weiß. Sicher.“, Malin lächelte. „Wie die Raucher, die sagen, soll mich der Lungenkrebs holen. Und wenn die Diagnose da ist, sofort einlenken.“ Sie lachte.
„Mir ist ein Witz über die Wrukolas eingefallen“, Bettina lächelte erwartungsvoll.
„Schieß los“, Malin war dankbar. „Ich kann jede Aufheiterung gebrauchen...“
„Bewirbt sich ein Wrukola bei der Blutbank. Sagt der Personaler: Geht nicht. Sie trinken unsere Ware weg. Nein nein, erwidert der Wrukola. Ich will mich gesund ernähren – nur frische Lebensmittel...“
„Jaja“, lachte Malin. „Von einer Personalerin, die ihr ganzes Geld für Bio-Lebensmittel ausgibt.“
„Ok, ein anderer: Wrukola beim Zahnarzt, Zahnarzt bohrt rum, dann sagt er ihm: Und für die Zukunft merken Sie sich: Erst Halskette beiseite schieben – dann erst beißen!“
„Frauenwitz!“ Malin kicherte. „Warum mögen Wrukolas keine Freitag-Taschen? Sie kommen mit den Zähnen nicht durch den Schultergurt.“
„Ruft ein Wrukola beim Pizzaservice an: Ohne alles, sagt er. Einfach nur den Fahrer.“
„Woran erkennt man einen rücksichtsvollen Wrukola? Er hat Pflaster dabei.“ Malin lächelte. „Ich habe mal einen Trinker gesehen, der hatte ein T-Shirt: ‚Legenden sterben nicht im Bett.‘ Der wird genauso um sein Leben betteln, wenn er noch betteln kann. Und wenn ein guter Fick kommt, der einem die Essenz des Lebens wieder in sämtliche Haarspitzen pumpt mit jedem perfekt ausgeführten Stoß, dann ist das so. Kann so bleiben. Ist gut so. Aber ich weiß das und werde den Schrei nach Lebenselixier umgehen.“
„Wie?“ Bettina war immer noch geschockt. „Selbst das Springen vom Hochhaus braucht einen Schritt.“
„Ich habe mir Vampir- und Werwolffilme angesehen“, Malin deutete auf den Fernseher. „Die ganze Nacht. Alle Vampire atmen. Ich werde mich ersticken.“
„Dummes Kind“, stieß Bettina hervor. „Das sind Schauspieler. Sie können es kaum nicht tun.“
„Bram Stoker hat das erste Buch geschrieben über Vampire. Ein BUCH geschrieben, kein Drehbuch. Damals gab es keine Filme, der war ganz sicher nicht auf die Verfilmung scharf. Er hätte das Atmen weglassen können. Aber auch Vampire können REDEN. Aber nach Adam Riese ist kein Sprechen möglich ohne Atmen.“
„Hm. Wie?“
„Ich lerne tauchen. Du sagst die ganze Zeit, man muss alle 10 Meter beim Auftauchen halten, sonst explodiert die Lunge. Ich gehe in der Nacht zum Vollmond tauchen. Ich verwandle mich unten im Wasser. Ich weiß das mit den 10 Metern nicht mehr. Die Verwandlung. Die Lunge explodiert. In zwei Monaten.“
„Du bist entschlossen?“
„Ich habe mich heute in einem Tauchkurs eingeschrieben“, Malin nickte ernst. „Davor tue ich mein Bestes, um die Nummer mit den Russen aufzuklären. Den Grund für all das herausfinden. Bis dahin werde ich noch jemanden beißen. Und dann habe ich genug Hass auf mich. Wegen dem Kommissar. Wegen der Welt, wie sie ist. Der Hass muss nur für den Tauchgang zur rechten Zeit reichen. Und ich wollte schon immer die Rolle rückwärts machen, im Wasser kein Problem. Rest erledigt sich von selbst. Ich werde nicht in die Hände dieses LE Kommissars fallen...“ Sie hatte Bettina nichts über den Pager und die Nachricht beim Kommissar gesagt, es war auch so deutlich.
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