Stefan Cernohuby und Henry Bienek (Hrsg.)
& wie man sie überlebt
Eine Anthologie der Geschichtenweber
Eine lange Nacht – Teil 1
Gerd Scherm
Der Traumbeutler
Damaris McColgan
Kuschel
Kassandra Schwämmle, Stefan Cernohuby
Das Speichermedium
Yann Krehl
Fischfutter
Rainer Wüst
Pelzibub
Agga Kastell
Tausend Türen
Ronja Scherz
Das Erbe
Eine lange Nacht – Teil 2
Agnes Sint
Die Königin
Julia Heuer
Ein Sturm zieht auf
Klaus Lichtenegger
MächTiger Ärger
Nadine Muriel
Jans Schweinehund
Christina Bittner
Marley
Barbara Petersmann
Carnivourus Egomanipitikus
Anke Höhl-Kayser
Stranger
Alisha Pilenko
Hippalektryons Kapriolen
Eine lange Nacht – Teil 3
Stefan Cernohuby, geboren 1982 in Wien, studierte Elektronik und ist nach einigen Jahren im Ausland wieder in seiner Heimat ansässig. Er schreibt schon seit vielen Jahren kurze und lange Erzählungen in verschiedenen Genres. Neben seinen literarischen Aktivitäten war und ist er für unterschiedliche Medien als (Chef-)Redakteur tätig. Zahlreiche seiner Kurzgeschichten und Gedichte sind in unterschiedlichen Werken veröffentlicht worden. Er ist zudem Herausgeber von mittlerweile neun Anthologien, von denen zwei für den Deutschen Phantastik Preis nominiert wurden. Zuletzt erschienen mehrere Heftromane und ein Science-Fiction-Roman in der Reihe „Die neunte Expansion“. Er ist Mitglied der Geschichtenweber und zweiter Vorstand des Phantastik-Autoren-Netzwerks PAN.
Henry Bienek, geboren 1973 in Darmstadt und auch dort geblieben, fing schon in der 5. Klasse mit dem Schreiben an, ließ es dann aber aus Zeitgründen wieder sein. Erst mit Ende Zwanzig startete er einen neuen Versuch. Getrieben von zu vielen anderen Hobbys (drei Chöre, unzählige Filme, Serien und Bücher, diverse Pen & Paper-Rollenspielrunden) schafft er es nur selten selbst an die Tastatur, um auch mal wieder etwas zu schreiben.
In der Regel arbeitet er an düsterer Phantastik oder Humorvollem, versucht sich aber gelegentlich und bei ansprechenden Themen auch in anderen Sujets.
Sein bisher größtes Projekt war die Herausgeberschaft der Jugendbuchreihe 'Gaias Schatten' in sieben Bänden
(2014, TextLustVerlag).
Eine lange Nacht – Teil 1
von Henry Bienek, Nadine Muriel und Stefan Cernohuby
Martin trat heftig auf die Bremse. Das Reh, das mitten auf der Straße stand, schien ihm einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen, ehe es ins Gebüsch sprang und sofort wieder von der pechschwarzen Finsternis des Waldes verschluckt wurde. Verdammt, das war knapp! Obschon Martin ein geübter Autofahrer war, umkrallte er das Lenkrad wie ein Schiffbrüchiger eine Planke. Die Straße war eine Aneinanderreihung von Haarnadelkurven, noch dazu völlig unbeleuchtet. Die Leute vom Straßenbauamt, die für diese Strecke zuständig waren, mussten ausgesprochene Sadisten sein – genau wie sein Chef, der ihm den heutigen Kundentermin am anderen Ende der Republik zugeteilt hatte.
Das Geschäftsgespräch war zwar überraschend gut gelaufen, doch inzwischen wurde Martins Freude darüber von bleierner Müdigkeit erdrückt. Es war zehn Uhr nachts und er wollte nur noch heim. Bloß deswegen war er ja von der Autobahn abgefahren, um die deutlich kürzere Strecke durch den Odenwald zu nehmen. Eine Entscheidung, für die er sich inzwischen am liebsten ohrfeigen würde. Martin hatte keine Ahnung mehr, wo er sich befand, und seinem Handy, das er für das GPS verwendet hatte, war schon vor Stunden der Strom ausgegangen. Nun rollte er durch eine ihm unbekannte düstere Waldlandschaft. Wenn sich hier nicht Fuchs und Hase gute Nacht sagten, dann wusste er nicht, wo …
Martin hätte laut vor sich hin geflucht, wenn er nicht selbst dafür viel zu erschöpft gewesen wäre. Er merkte, wie ihm hinter dem Steuer langsam die Augen zuzufallen begannen. Die ungewohnte und kurvenreiche Gegend hielt seine Nerven momentan noch auf Trab und zwang ihn, sich zu konzentrieren. Aber wenn das so weiterging, würde er wohl eine Parkbucht im Wald ansteuern müssen, um sich dort ein paar Stunden aufs Ohr zu hauen.
Doch nach der nächsten Kurve tauchte am Horizont ein großes Haus auf, das in rotem und weißem Licht regelrecht gebadet wurde. Eine ausgeleuchtete Einfahrt führte direkt bis zur großen Eingangstür. Mit einer Übernachtungsmöglichkeit rechnete Martin zwar nicht, nichtsdestotrotz bremste er ab und bog in die Einfahrt. Jetzt sah er auch einen Wegweiser. Yollas Haus der Tiere stand darauf.
Nun gut, das klang definitiv eher nach einem Zirkus als nach einer Herberge. Aber vielleicht kannte dieser Yolla ja ein Hotel in der Gegend. Und bevor Martin noch länger umherirrte …
Mit diesen Gedanken stieg Martin aus seinem Wagen und ging zu dem Gebäude. Eine Klingel konnte er nirgends entdecken. Oder war er bloß zu müde? Egal, an der halb offenen Tür hing ohnehin ein Schild mit der Aufschrift „Hereinspaziert“ und aus dem Gebäudeinneren fiel ein heller Lichtschein. Also waren Besucher wohl trotz der späten Stunde willkommen. Erleichtert betrat Martin eine Welt der Tiere. Aber nicht irgendwelcher Tiere.
Gleich am Eingang befand sich eine riesige Voliere. Ein großer Vogel, der aussah wie eine Mischung aus Strauß und Kakadu, drehte den Kopf mit dem dreieckigen Schnabel in Martins Richtung und begann sich krächzend aufzuplustern. Dann flogen seine Federn wie ein explodierender Ball in alle Richtungen davon und wurden nur vom engmaschigen Gitter der Voliere aufgehalten. Eine kurze Zeit stand der Vogel nackt und ohne Federkleid da, bevor die eben noch von sich geworfenen Federn in einem wilden Tanz zurück an den Körper des Vogels strebten und sich wieder anlegten, als wäre nichts gewesen. Erneut begann das krächzende Aufplustern …
In einem großen Terrarium daneben befanden sich vier stromlinienförmige, unterarmlange Echsen in einem neonfarbenen Blauton mit einem orangefarbenen Strich in der Mitte. Offenbar machten sie Jagd auf die Riesenheuschrecken, mit denen sie ihre Behausung teilten. Dazu nutzten sie allerdings nicht ihre Zungen, stattdessen spie der orangefarbene Strich auf ihren Rücken in hohem Bogen einen gleichfarbigen Klumpen aus, der auf die Heuschrecken zuschoss und sie schmelzen ließ. Danach ging ein Ruck durch die Echsen, sie verschwanden vom jeweiligen Standort, tauchten direkt neben der getöteten Heuschrecke auf und schlürften deren Überreste in sich hinein.
Verwirrt rieb Martin sich die Augen. Halluzinierte er bereits vor Müdigkeit? Oder handelte es sich um irgendeinen Trick? Vielleicht waren diese merkwürdigen Kreaturen ja gar keine lebendigen Tiere, sondern täuschend echte Apparaturen? Er trat näher an das Terrarium, um die Echsen genauer zu inspizieren.
„Faszinierend, nicht wahr?”, ertönte genau in diesem Moment eine angenehm tiefe Stimme neben ihm. „Mangolesische Spuckechsen. Nur für Asbest oder ähnlich feuerfeste Terrarien geeignet. Und das nebendran ist ein Plustervogel. Sie können sich ja denken, wie er zu dem Namen kam. Er kann seine Federn bis zu zwei Meter weit schleudern. Diese sind übrigens hochgiftig für die meisten Tiere und auch für die meisten Terra-, äh, Menschen.”
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