Sundance war überrascht, denn von außen hatte der Laden gar nicht so groß ausgesehen. Er hatte Regale mit Futter, Pflegemitteln und Käfigen und Aquarien erwartet, doch vor ihm erstreckte sich ein riesiges Areal. Das war viel mehr als ein Shop, das war wirklich ein Zoo! Gehege reihte sich an Gehege, manche mit Absperrbändern, manche mit Gitterstäben, manche mit Sicherheitsglas. Das war kein Geschäft für niedliche Haustiere, das war ein Panoptikum mit allem, was kreucht und fleucht und läuft und schwimmt.
„Wonach steht dir der Sinn?“, riss ihn eine Stimme aus seinen Betrachtungen. Neben ihm stand ein freundlich lächelnder junger Mann, der laut Namensschild ZOOSP-Berater war und Mike hieß. Ohne eine Antwort abzuwarten, machte er eine überschwängliche Geste mit beiden Armen und forderte Sundance auf, ihm zu folgen. Was der sah, ließ ihn staunen. Als eifriger Fantasy-Leser kannte er von Illustrationen und Geschichten das Aussehen und die Namen einer Menge mythischer Tiere – Greif, Einhorn, Drache, Basilisk, Chimäre, Zentaur, selbst Zerberus und Hydra waren ihm vertraut. All das war hier und noch vieles mehr. Das sprengte alles, was ihm bisher an fantastischen, magischen, mythischen Wesen in Literatur, Comics und Film je begegnet war.
Er wandte sich an den Verkäufer und sagte leise, als hätte er Angst, die Monster könnten beleidigt sein: „Sehr beeindruckend. Doch ich suche etwas Kleines, Kuscheliges. Das Tier sollte familientauglich sein, anschmiegsam, vor allem auch für Kinder geeignet.“
„Ich verstehe“, erwiderte Mike. „Da haben wir doch gerade etwas ganz Bezauberndes hereinbekommen. Du wirst es mögen.“ Der Verkäufer deutete auf ein kleines Gehege hinter Sundance, der sich sicher war, dass es vor einigen Sekunden noch nicht dort war. Den Bereich trennte nur ein niedriger Holzzaun vom Rest des Ladens, es war also ungefährlich, beruhigte sich Sundance. Darin lag ein Tier, flach, platt wie eine Flunder oder ein Rochen und von der Größe eines zu klein geratenen Gästehandtuchs.
„Was soll das sein? Ist das überhaupt etwas Lebendiges?“
„Durchaus, du wirst überrascht sein. Es ist das anschmiegsamste Wesen, das ich je gesehen habe. Und ich habe wirklich viele gesehen“, fügte er hinzu und machte eine vielsagende Geste, die den ganzen Raum hinter ihm mit all seinen Monstern umfasste. Er hob das Tier hoch und zeigte die Unterseite. Sundance war überrascht. Er sah ein süßes Babygesicht, das ihn an einen Delphin erinnerte. Darunter zeichnete sich schwach ein kleiner Körper ab, nicht größer als der Kopf. Außerdem hatte das Tier zwei dicke Beinchen. Es entsprach absolut dem Kindchen-Schema.
„Ich habe keine Ahnung, wo das Tier herkommt“, sagte der Verkäufer. „Die einen sagen aus der Nähe von Ayers Rock, die anderen aus irgendeinem Chemielabor in China.“
„Das heißt Uluru“, verbesserte Sundance.
„Du weißt, wie das Chemielabor heißt?“
„Nein, ich habe keine Ahnung von dem Labor. Aber der heilige Berg in Australien wird jetzt in der Sprache der Aborigines Uluru genannt. Aus Respekt vor den Ureinwohnern.“
„Ach so. Aber ist eh egal. Wichtig sind die Tiere. Fass den Kleinen mal an, streichle ihn!“
Sundance tat es und spürte sofort eine beruhigende Wirkung. Je länger er das kleine Etwas streichelte, desto wohler fühlte er sich. Es tat ihm gut, so gut. Am liebsten hätte er nie mehr mit dem Streicheln aufgehört.
„Willst du es kaufen?“, riss ihn die Stimme des Verkäufers aus seinem Tagtraum.
Der Rücksturz in die Realität war ein kurzer Schock, doch dann war Sundance wieder völlig klar.
„Was soll das Schätzchen kosten?“
„Wie wäre es mit hundert Bucks?“
„Nein. Das ist viel zu viel für so wenig Tier.“
„Okay, gib mir achtzig und es gehört dir.“
„Das kann ich mir nicht leisten. Da kann ich meiner Kleinen leider nur ein Plüschtier kaufen.“
„Es ist für dein Kind?“
„Ja, sie hat morgen ihren zweiten Geburtstag und ich wollte ihr etwas ganz Besonderes schenken. Dieses süße Tierlein wäre optimal.“
„Hm. Wie viel kannst du ausgeben?“
„Zwanzig.“
„Mein Chef tritt mich in den Hintern. Aber du scheinst ein netter Kerl zu sein. Gib mir dreißig und du kannst es mitnehmen.“
„Okay. Abgemacht. Wie nennt man diese Tiere eigentlich?“
„In den Papieren steht ‚Papatahi‘, aber frag mich nicht, was das bedeutet.“
Sundance grinste. „Da ich der Papa bin, nenne ich das kleine Wesen Tahi.“
Als er beim Bungalow ankam, grinste er immer noch. Der Vatertrick hatte ihm eine Menge Geld gespart.
„Dieses Tier ist besser als jeder Happymaker! Wahnsinn!“, rief Manolito begeistert.
„Genau, es ist wirklich verrückt. Man sagt ja, dass Hunde und Katzen streicheln beruhigt, aber hier läuft viel mehr“, pflichtete ich ihm bei. „Mann, fühle ich mich gut, ach was, sauwohl. Alles ist so easy.“
„Wir könnten das Tier doch stundenweise gegen Geld vermieten“, schlug Sundance vor.
„Nein, nein! Dieses Tierlein ist unsere Eintrittskarte für den Superjob. Wir werden nächstes Jahr 20 Bungalows managen und unheimlich viel Kohle abräumen. Zu all unserem Gehalt kommt bestimmt eine Menge Trinkgeld von den Besuchern. Wenn die das erleben, gehen ihnen die Herzen und Geldbeutel auf“, prophezeite ich.
„Lasst uns den Boss anrufen und ihm die frohe Botschaft verkünden.“
Während des Telefonats ruhte meine rechte Hand ständig auf dem Tier und das gab mir das Gefühl, dass nichts schiefgehen konnte. Ich erzählte dem Boss, dass wir etwas ganz Tolles für die Gäste gefunden haben, ein absolutes Wohlfühl-Tier. Er war neugierig, aber wie immer misstrauisch. „Klingt gut. Ich schicke morgen meine Assistentin Jane vorbei, die soll sich das mal ansehen.“ Und schon war das Gespräch beendet. Verheiratete Firmeninhaber haben wohl immer eine Assistentin, zu der sie sehr viel Vertrauen haben, sogar in geschäftlichen Dingen.
Am nächsten Tag, so gegen Mittag, ertönte ein lautes Hupen vor dem Bungalow.
Sundance, Manolito und ich stürmten aus dem Haus. Bisher kannten wir Jane nur vom Hörensagen und wir waren gespannt, wie sie aussieht. Und was soll ich sagen? Vor uns sahen wir eine Inszenierung, ein Arrangement aus den Glanzzeiten Hollywoods: Eine blonde, fantastisch gutaussehende junge Frau in Weiß, umrahmt von einem roten Austin Healey Cabrio Oldtimer aus den frühen 1960ern – ein filmreifer Auftritt, Marilyn Monroe ließ grüßen.
Nachdem sie uns einige Sekunden schweigend gemustert hatte, sagte sie: „Hi Boys! Ich bin Jane.“
Wir rannten alle drei gleichzeitig los. Es war sicher der kürzeste Wettlauf aller Zeiten und dennoch gewann Manolito mit merklichem Vorsprung. Er errang unangefochten den Siegespreis und durfte die ausgestreckte Hand freudig ganz sanft drücken. Nach einer gefühlten Ewigkeit durften auch wir Jane begrüßen und ich bat sie ins Haus. Dadurch lag der Vorteil nun bei mir. Aber nur kurz, denn nun übernahm Sundance, der das Tier ja besorgt hatte. Zähneknirschend überließen wir ihm den Vortritt.
„Das ist das Kuscheltier des Jahres!“, begann er euphorisch. „So etwas hat die Welt noch nicht gesehen, nicht einmal im Fernsehen.“
Jane betrachtete das leicht pelzige, flache Etwas skeptisch, räusperte sich und meinte schließlich: „Besonders attraktiv wirkt es aber nicht. Zumindest nicht auf den ersten Blick.“
Ich bewunderte sie für ihre Zurückhaltung. Im Prinzip hatte sie ja recht. Unser Tier sah auf den ersten Blick aus wie ein liegengebliebenes Gästehandtuch. Doch Sundance ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. „Setz dich in den Sessel, Jane“, forderte er sie auf. Dann legte er ihr das Papatahi auf den Schoss. „Leg deine Hände auf das Tier und schließ die Augen. Entspann dich!“
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