»Laoise. Bist du das?«
Die Angesprochene holte die Fackel näher an ihr Gesicht, damit sie im Lichtschein besser zu sehen war.
»Ja, Sean, ich bin es. Bitte macht auf, ich brauche eure Hilfe!«
Das Auge wurde noch mehr zusammengekniffen.
»Bist du allein?«
Laoises Verwirrung wuchs.
»Ja, natürlich. Deshalb bin ich hier!«
Endlich wurde die Tür ganz entriegelt und Sean Murphy nahm ihr die Fackel ab, warf sie achtlos auf den Boden, wo sie erlosch und zerrte die junge Frau förmlich ins Innere des Hauses, spähte noch einmal misstrauisch in die Dunkelheit, bevor er den Eingang wieder verrammelte.
Die Murphys waren nicht allein. Ein Mann, den Laoise flüchtig vom sonntäglichen Kirchgang als Daniel Sheffield kannte, saß am Tisch. Er war ganz grau im Gesicht.
Sean Murphy hielt sich nicht mit Floskeln auf.
»Sag schon, Laoise, was treibt dich so spät noch zu uns?«
Verwirrt sah die Brünette von einem zum anderen.
»Conor ist heute Morgen zum Markt gegangen und immer noch nicht zurückgekommen.«
Ein erschrockenes Keuchen ging durch den Raum und Sean trat zornig gegen den Schrank, ließ Laoise heftig zusammenzucken.
»Verdammt. Hörst du das, Daniel? Dein Junge ist nicht der einzige, der vermisst wird!«
Laoise spürte, wie eine eiskalte Hand nach ihrem Herz griff.
»Es ist noch jemand verschwunden?«
Daniel Sheffield fuhr sich über die Augen.
»Mein ältester Sohn. Er wollte … Ich habe keine Ahnung, wo er ist. Sean, denkst du, die beiden könnten zusammen …?«
»Ich habe keine Ahnung, aber wir werden es herausfinden!«
Mit großen Augen sah Laoise zu, wie der kräftige Bauer auf die Knie ging und ein Brett aus dem Boden hebelte. Darunter befand sich ein ganzes Arsenal von Schusswaffen.
Adare, County Limerik, September 1652
Im ersten Morgengrauen packten Farrell und Bidelia ihre wenigen Habseligkeiten auf einen kleinen Karren. Es war erschreckend, wie wenig sie besaßen. Ein paar Kleidungsstücke, ein paar Laken, etwas Geschirr. Dazu eine Hacke, eine Axt, ein Beil und eine Säge. Dazu suchten sie die restlichen Vorräte zusammen, die sie noch finden konnten.
Als Farrell die Tür des kleinen Bauernhauses schloss, musste er schlucken. Hier war er aufgewachsen, hatte seine Kindheit verbracht. Sein Vater hatte immer zu ihm gesagt, wenn man ein Stück Land besaß, würde man nie Hunger leiden müssen.
Das war, bevor die Engländer Irland besetzt hatten. Jetzt war alles anders. Viele litten Hunger. Und viele versuchten, gegen die Engländer zu kämpfen. Farrell hielt nichts davon. Er war im Grunde seines Herzens ein friedliebender Mann. Er scherte sich nicht darum, wer die Gesetze machte, wer das Land regierte. Alles, was er wollte, war, in Ruhe mit seiner Frau zu leben, das Land zu bestellen, das ihn und seine Familie ernährte und in der Nacht das Bett mit Bidelia zu teilen.
Aber das alles, bis auf Letzteres, war ihm genommen worden. Er hegte keinen Groll, nur eine tiefe Traurigkeit hatte von ihm Besitz ergriffen.
Er legte sich die Gurte um, mit denen er den Karren ziehen wollte und nickte seiner Frau zu.
»Lass uns aufbrechen, damit wir am Abend schon ein Stück geschafft haben. Vielleicht können wir unterwegs irgendwo ein paar Tage bleiben und Arbeit finden, ein wenig Geld verdienen.«
Bidelia nickte, stellte sich hinter den Karren und schob, während Farrell sich ins Geschirr legte und zog. Langsam verließen sie ihren Hof. Nach einer kurzen Weile blieben sie noch einmal stehen, sahen sich um. Bidelia traten die Tränen in die Augen. Langsam begriff sie, dass dies ein Abschied für immer sein würde.
»Farrell, glaubst du, dass es das Richtige ist?«
In ihr waren immer noch Zweifel. Sie verstand ihren Mann nicht, der alles mit stoischer Ruhe über sich ergehen ließ. Am liebsten hätte sie sich den Rebellen angeschlossen, gegen die Engländer gekämpft. Aber sie hatte geschworen, Farrell zu begleiten, ihn zu ehren und ihm zu gehorchen, auch wenn ihr gerade Gehorsamkeit schwerfiel.
»Was sollen wir noch hier? Das Land ernährt uns nicht mehr.«
»Wir könnten darum kämpfen.«
Farrell konnte sein Entsetzen nicht verbergen. Hatte Bidelia das wirklich gesagt?
»Kämpfen? Gegen die Engländer? Sollen wir uns erschießen oder gar aufhängen lassen? Ist es das, was du willst? Am Baum hängen? Und das Letzte, was du tust, ist dich vollzuscheißen, während das Leben aus dir weicht? Nein, Bidelia, ich sage, wir gehen nach Virginia. Dort werden wir unser Glück machen.«
Er legte sich ins Zeug, zog den Karren. Seine Frau wischte sich die Tränen ab und schob wieder.
Am Mittag machten sie eine kurze Rast. Farrell gab es nicht zu, aber sein Rücken schmerzte und die Muskeln in seinen Beinen brannten. Doch er würde nicht aufgeben, das konnte er nicht.
Als sie weiterzogen, kamen sie an einem Feld vorbei, auf dem mehrere Arbeiter Steine aufsammelten. Ein Mann sah sie an, winkte ihnen zu.
»He, ihr beiden, wohin des Weges?«
Farrell blieb stehen.
»Nach Cork, guter Mann.«
»Ich bin Roy Phearson, mit wem habe ich die Ehre?«
Farrell stellte sich und seine Frau vor, Phearson wischte sich die Hand an seiner Hose ab und reichte sie den beiden.
»Was wollt ihr in Cork? Seid ihr auf der Suche nach Arbeit?«
Farrell schüttelte den dunklen Haarschopf.
»Nein, wir wollen von dort weiter nach Virginia.«
Roy kratzte sich am Kopf.
»Ach, ihr wollt euch dort auf ein Stück Land erarbeiten?«
»Ja, Sir. Wir haben alles verloren, den Winter werden wir hier nicht überleben.«
»Nun, das verstehe ich, aber der Weg ist noch weit.« Er sah Farrell an. »Du scheinst ein kräftiger Bursche zu sein. Wenn ihr möchtet, ich bräuchte für zwei oder drei Tage etwas Hilfe. Das Feld hier, es wachsen hauptsächlich Steine darauf. Die müssten weg. Und ich denke, ihr könntet ein wenig Handgeld brauchen.«
»Das wäre großzügig, Sir.«
Roy streckte Farrell erneut die Hand entgegen.
»Dann bleibt drei Tage. Ihr bekommt etwas zu essen, einen trockenen Schlafplatz für die Nacht und am Ende ein wenig Geld.«
»Das …«
Bidelia konnte es kaum glauben. Was für ein Angebot, fast zu gut, um wahr zu sein. Das Abenteuer schien sich besser zu entwickeln, als sie gedacht hatte. Vielleicht hatte Farrell doch Recht.
»Gern, Sir, zeigen Sie uns, wo wir unsere Sachen abstellen können, dann fangen wir sofort an.«
County Cork, September 1652
Laoise schnappte hörbar nach Luft.
»Sean! Woher habt ihr das?«
Ihre Stimme klang schrill, beinahe schon panisch. Der Farmer warf ihr nur einen kurzen Blick zu.
»Es gibt Dinge, die willst du so genau gar nicht wissen, mein Kind. Hast du schon mal geschossen?«
Abwehrend schüttelte die Brünette den Kopf. Natürlich nicht! Die gefährlichste Waffe, die sie jemals in der Hand gehabt hatte, war ein Beil zum Hühnerschlachten gewesen.
Sean Murphy überraschte Laoises Reaktion nicht. Damit hatte er gerechnet, aber es wurde Zeit, sie endgültig einzuweihen. Er sah sie lange an, dann reichte er ihr einen kurzen, scharfen Dolch.
»Nimm das. Falls du dich verteidigen musst. Versteck ihn irgendwo am Leib.«
Mechanisch gehorchte Laoise, versteckte den Dolch in ihrem Mieder und sah mit Entsetzen zu, wie Murphy jeden Anwesenden bis hin zu seinem zwölfjährigen Sohn mit einem Gewehr oder einer Pistole ausstaffierte. Selbst Orla schien zu wissen, wie man die Waffe laden musste. Einen Moment lang drohte Laoises Angst in nackte Panik abzugleiten.
»Sean, wofür brauchen wir Waffen? Conor hatte sicherlich nur einen Unfall!«
Immer noch glaubte sie, dass sich bald alles aufklären würde und sie ihren Verlobten in die Arme schließen könnte.
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