Noch immer war sie sich nicht vollkommen über ihre eigenen Empfindungen im Klaren. Der Verlust Conors schmerzte nach wie vor wahnsinnig, aber gleichzeitig hatte sie das Gefühl, dass ihr Leben zum ersten Mal einen Sinn und eine Richtung bekommen hatte, der über Arbeit und Überleben hinausging.
Sie schoss mit jedem Tag besser, meisterte den Umgang mit mehr und mehr Waffen. Es kamen immer weniger Patrouillen in die Gegend um Churchtown und die, die es noch wagten, kehrten nicht lebendig nach Cork zurück – es sei denn, Laoise wollte es so. Jemand musste schließlich vom Churchtown-Schlächter, wie die Soldaten sie mittlerweile nannten, berichten!
Die Dezimierung der Soldaten hatte noch einen anderen positiven Effekt. Die Rebellen hatten mittlerweile so viele Uniformen, dass es leicht fiel, Warenlieferungen, die eigentlich für die englische Garnison in Cork bestimmt waren, abzufangen und statt zur Kaserne zu den Rebellen zu bringen. Zumindest in Churchtown und den das Dorf umgebenden Höfen hatten dank Laoise alle genug zu essen.
Sie entschied, dass sie allen Grund hatten, zu feiern – und sie, sich ein wenig bejubeln zu lassen. Das erste Mal seit Wochen stahl sich ein zufriedenes Lächeln über ihr schönes Gesicht.
»Hast du kein schlechtes Gewissen?«
Laoise zuckte zusammen, als eine Stimme praktisch direkt neben ihrem Ohr erklang und wandte sich der Frau zu, die sie angesprochen hatte. Es war Ava Shedal, die Tochter der Wirtsleute. Mit einem Tablett voller Bierkrüge in den Händen stand sie da und blickte Laoise neugierig aus wimpernlosen braunen Augen an.
Laoise mochte die nur wenig jüngere Ava nicht besonders. Sie war nicht sehr hell im Oberstübchen und hatte, als sie noch Kinder gewesen waren, immer gepetzt, wenn jemand etwas ausgefressen hatte. Seit einigen Monaten war sie häufiger mit Padraig Murphy zur Kirche gekommen, was dazu führte, dass man von einer baldigen Verlobung munkelte.
Laoise nahm einen vollen Bierkrug vom Tablett und tauschte ihn gegen ihren geleerten aus. Sie schürzte die Lippen.
»Schlechtes Gewissen? Nein, wahrhaftig nicht! Meinst du, die Engländer haben eines, wenn sie uns ausbeuten, verhungern lassen oder einfach am nächsten Baum aufhängen? Ich denke doch eher nicht! Entweder ich erwische sie oder sie mich. Ich werde sie weiterhin einen nach dem anderen schießen wie Karnickel, bis es eines Tages mich trifft.«
Laoise war erstaunt, wie zufrieden dieser Gedanke sie machte! Sie nahm einen tiefen Zug aus dem Bierkrug und rülpste herzhaft, wie um ihre Aussage zu unterstreichen. Ava wirkte schockiert. Laoise war nicht sicher, ob ihr entsetzter Blick ihren Worten oder dem wenig damenhaften Rülpser galt.
»Aber der liebe Gott …«, setzte Ava an, doch Laoise schnitt ihr mit einem spöttischen Lachen das Wort ab.
»Der liebe Gott! Erzähl mir nichts vom lieben Gott. Mit dem werd ich mich schon einigen! Dem werd ich mal erzählen, was für ein grausamer Mistkerl er ist, wenn er denn existiert, woran ich so langsam nicht mehr glaube!«
Fast hätte die blonde Wirtstochter ihre Krüge fallen lassen und sie holte erneut Luft, um etwas zu entgegnen, aber in dem Moment trat Padraig Murphy zu den beiden Frauen. Er strahlte Laoise an.
»Magst du tanzen?«
Der Gesichtsausdruck Avas wandelte sich von Fassungslosigkeit in Wut. Ihre blasse Haut lief so dunkelrot an, dass Laoise einen Moment lang befürchtete, ihr Kopf könnte explodieren wie die der Soldaten, die sie täglich von den Pferden schoß. Die Brünette beschloss, nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen, und schüttelte den Kopf.
»Nein, ich bin keine gute Tänzerin. Aber ich bin sicher, Ava hat Lust dazu. Komm, gib das mal her und mach Pause!«
Sie stand auf, nahm der Wirtstochter das Tablett aus den Händen, ging davon und verteilte die Krüge, nahm lächelnd die Hochrufe der Männer entgegen, die sie immer noch wie eine Heldin feierten.
Virginia, November 1652
Richard Campbell saß auf dem Kutschbock und wartete vor dem Herrenhaus der Plantage auf Giles Stewart, den Besitzer des Anwesens. Der glatzköpfige Mann mit dem stechenden Blick war der oberste Aufseher der Plantage und damit Herr über alle Arbeiter und Sklaven. Er machte kaum einen Unterschied zwischen den freiwilligen Arbeitern und den nach Virginia verschleppten afrikanischen Sklaven. Für ihn zählte nur Leistung! Wer nicht gut arbeitete oder seiner Meinung nach faul war, der wurde von ihm bestraft. Egal, ob Mann oder Frau. Es gab fast niemanden, der nicht mindestens einmal Bekanntschaft mit Gwendolyn gemacht hatte. So nannte er liebevoll seine Peitsche, die er all jene spüren ließ, die ihm unangenehm auffielen.
Heute jedoch musste er sie in seiner Hütte lassen. Gemeinsam mit dem Gutsherrn würde er zum Hafen fahren, um die Neuankömmlinge in Empfang zu nehmen.
»Frischfleisch«, grinste er diabolisch. »Zeit, dass Gwendolyn neue Haut zu schmecken bekommt.«
Giles kam die Treppe herunter, die zum Gebäude führte und kletterte neben Richard auf den Kutschbock, ließ sich auf die Sitzbank sinken.
»Also los, Richard, lass uns mal sehen, was der König und Cromwell uns Schönes geschickt haben.«
»Ja, Sir. Hoffentlich sind ein paar kräftige Kerle dabei. Es gibt ne Menge Wald, der gerodet werden muss.«
Giles grinste.
»Du meinst die Süderweiterung? Ja, da brauchen wir Männer mit Muskelschmalz, keine Denker. Und vielleicht sind ja auch hübsche Frauen mit an Bord.«
Richard schnalzte mit der Zunge.
»Ja, auch da wäre etwas Frischfleisch gut. Gute, prächtige Stuten, mit denen man eine Zucht aufbauen könnte.«
»Wenn diese verdammten Iren nicht so dickköpfig wären.« Giles kratzte sich am Kinn. »Würde uns ne Menge Zeit sparen, wenn sie mehr arbeiten und weniger auf ihre angeblichen Rechte pochen würden.«
»Gwendolyn ist noch mit jedem fertig geworden«, brummte Richard zurück. »Diese tumben Bauern werden schnell ruhig, wenn man ihnen zu verstehen gibt, dass die weißen Rücken ihrer Frauen mit ihr Bekanntschaft machen werden.«
»Ja, Gwendolyn. Ich fürchte, sie wird wieder viel Arbeit haben.«
Die Männer lachten über ihre derben Scherze. Während sie über die schmalen Wege entlang der Felder und Wälder, die zu Giles Stewarts Anwesen gehörten, fuhren, entging keine Kleinigkeit den wachsamen Augen des Aufsehers. Die Liste derer, die am Abend von Gwendolyn geküsst werden sollten, wurde mit jeder Minute länger. Nach gut drei Stunden erreichten sie den Hafen und hielten vor der großen Lagerhalle an, in denen man die Neuankömmlinge untergebracht hatte. Es standen bereits mehrere Kutschen davor, alles Gutsbesitzer, die sich nach Arbeitskräften umsahen. Mit jedem Schiff kamen Neue an, die ihr Glück in Virginia zu finden hofften. Richard stieg vom Bock, packte einen kleinen, dunkelhäutigen Jungen und sah ihm ins Gesicht.
»Du!«
Der Junge senkte den Kopf, wie er es gelernt hatte, wenn ein weißer Mann ihn ansprach.
»Ja, Master.«
»Du passt auf die Kutsche und die Pferde auf. Sollte bei meiner Rückkehr irgendetwas nicht so sein, wie es jetzt ist, lernst du mich kennen, verstanden?«
»Ja, Master«, flüsterte er mit Angst in der Stimme. »Es wird alles so sein, wie Ihr es erwartet.«
Der Glatzköpfige brummte nur und folgte Giles ins Innere des Lagerhauses. In einem großen Raum, hinter einer Absperrung, standen die Menschen, die vor kurzem noch auf der anderen Seite des Meeres gelebt hatten. Hoffnungsvoll sahen sie die Gutsbesitzer an. Keiner wusste, zu wem er kommen würde. Sie hatten geglaubt, man würde sie freundlich empfangen und sich höflich vorstellen. Aber die Gutsherren standen nur vor einer Art Podest und betrachteten die Menschen, als wären sie Vieh. Vorher war ein grimmiger Mann, allem Anschein nach so etwas wie ein Arzt, durch die Reihen gegangen und hatte sie untersucht. Ein schwarzes Mädchen war bei ihm gewesen und hatte jedem, mit dem er fertig war, ein Stück Stoff an die Kleidung, direkt über dem Herzen, geheftet. Was die Farben zu bedeuten hatten, war niemandem klar, der Mann gab auf entsprechende Fragen keine Antwort. Es war nur auffällig, dass die jungen Frauen fast alle ein blaues Stück Stoff bekamen, die älteren hingegen meist schwarz oder braun. Auf dem Podest stand ein Pult, darauf lagen ein Hammer und, so hatte es den Anschein, eine Liste.
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