Ich lief die paar Meter bis zum übernächsten Haus, fuhr mit dem Aufzug in den fünften Stock. Vor sechs Monaten war ich hier in meine Eigentumswohnung, eine renovierte Mansarde gezogen - einhundertundzwanzig Quadratmeter einschließlich einer herrlichen Westdachterrasse – eine Traumwohnung.
Mit einem Glas Rotwein und den Schuhkartons setzte ich mich auf meine Terrasse, breitete Briefe und Notizen auf dem Tisch aus. Einige Fotografien, die Großvater in SA-Uniform zeigten - ein Heizer, der vom Lokfenster auf eine Gruppe SS-Offiziere schaut, die Oma in der BDM-Kluft, einen zerknitterten Judenstern mit abgerissenem Eck.
Großmutter hatte in Stichpunkten die Familiengeschichte zusammengestellt. Geboren wurde sie in Leipzig, stammte von Drüben , wie man damals hier im Westen sagte. Die DDR, der sozialistische deutsche Staat, Ostdeutschland, wurde von vielen auch Zone genannt.
Großmutter war zusammen mit meinem Vater Theo rübergemacht. Früher ein salopper Ausdruck für die Flucht nach Westberlin oder in die Bundesrepublik - Wortbegriffe, die heutzutage kaum einer mehr kennt.
Einmal, ich war noch ein Kind, kam die Urgroßmutter zu Besuch. Eine kleine etwas beleibte, Zigaretten rauchende Frau. Ihren derben sächsischen Dialekt und Humor hatte ich nicht verstanden. Es gibt ein paar alte Fotos von damals.
Meinen richtigen Großvater lernte ich erst später kennen, für mich gab es nur den Opa Willi, den Lebenspartner der Großmutter.
Die Zonengrenze trennte mit Mauer und Stacheldraht nicht nur die beiden Deutschland, nein, es gab auch die Trennung in den Köpfen.
Ich hatte minimales Interesse an meinen Verwandten von drüben , kein Bedürfnis hinter den Eisernen Vorhang zu fahren.
Vater Theo erzählte mir nur wenig, erinnerte sich angeblich an nichts, hatte alles verdrängt, ausgeblendet.
Ich bin nach meiner Urgroßmutter, mütterlicherseits, Luise Hedwig Alexandra benannt. Namen, die mir noch nie gefallen haben, aber es hätte schlimmer kommen können.
«Es war nicht meine Schuld» , ein geflügeltes Wort, nicht nur in unserer Familie. Als Kind hörte ich das ständig, konnte damals nichts damit anfangen.
Heute, mit fast fünfzig Lebensjahren verstehe ich einiges davon besser, versetze mich da hinein.
Einer meiner Urahnen, ich glaube, vor sechs Generationen, soll als fahrender Musikant und Schweineknecht in jungen Jahren auf den großen Gutshof Mooreichen in Oberschlesien gestrandet sein.
Erst sein Enkel Johann hat sich herausgearbeitet aus der untersten Gesellschaftsschicht.
Er zog in den Krieg, eine Pflicht, die viele in seiner Altersklasse mit Begeisterung erfüllten. Immer wieder waren es die Frauen, die vorwärtsdrängten, nicht resignierten, die das Leben neu aufbauten.
Ein Jahr vor seinem Tod habe ich den Großvater Peter kennengelernt. Ich fuhr mit meinen Eltern 1987 zur Herbstmesse nach Leipzig, hierbei genügte damals ein Tagesvisum an der innerdeutschen Zonengrenze . Pro Person fünfzig DM für den Tag, ein teueres Eintrittsgeld, aber eine Möglichkeit, schnell und unkompliziert in die Geburtsstadt meines Vaters zu fahren. Bereitwillig zeigte er mir einige Stätten seiner Kindheit.
«Ich schreibe die Familiengeschichte auf», erzählte ich meinem Großvater, fragte ihn wissbegierig aus. Drei Tage lang saßen wir zusammen oder spazierten in der Stadt umher und er zeigte mir Orte seines Lebens. Er berichtete so, als ob er froh war, endlich die alten Geschichten loszuwerden.
«Mädchen schreibe auf, wie verblendet wir waren, - wie ich war! Ich glaubte an Führer und Vaterland!»
Gedankenverloren hing er an seinen Erinnerungen, kramte in der Hosentasche und überreichte mir, mit den Worten: «Suche Sara!», einen gelben Stern mit fehlender oberer Ecke.
Ich habe ihm kurz vor seinem Tod, telefonisch und brieflich noch die eine oder andere Geschichte entlockt, er ließ mich an seinem bewegten Leben teilhaben.
‹ Ich möchte mein Gewissen erleichtern, die Albträume loswerden, ohne Angst sterben ›, schrieb er in einem seiner letzten Briefe.
Ich sortierte die Unterlagen, versuchte, mich darin zurechtzufinden. Leider lebten nicht mehr viele meiner Verwandten. Mühsam setzte ich die fehlenden Teile zusammen, ergänzte phantasievoll die Lücken.
Nach langwierigen Recherchen und einigen Reisen an die verschiedensten Stätten der Familiengeschichte, buchte ich endlich ein Hotelzimmer in Chronstau. Ich suchte den Ort Mooreichen, ein Name, der in den Erzählungen vom Großvater immer wieder vorkam.
Speyer 1792 – Joseph
Bettelnd saßen die Kinder vor dem Dom, ein paar Kreuzer fielen immer in ihre zu einer Schale geformten Hände, die Menschen waren großzügig, wenn sie aus der Kirche kamen.
Seit Joseph Schapira laufen konnte, nahm ihn Elsa zusammen mit seinen älteren Schwestern, Judith und Amy, mit zum Betteln. Sie war die Tochter der im Dachgeschoss oberhalb der Schapiras wohnenden Witwe Esther Schönbaum.
Es herrschte bei den Bettelplätzen eine Rangordnung. Die armen Christenkinder saßen vor den Domtüren und warteten auf milde Gaben.
Den Juden war es nicht erlaubt, das freie Areal, um den Dom zu betreten. Am Rande des Domplatzes versuchten die großen Kinder ihr Glück. Mädchen sowie die jüngeren Judenkinder fanden ihre Plätze erst in den angrenzenden Gassen. Hier fiel für gewöhnlich nicht mehr so viel ab.
Elsa hatte schnell die Begabung des kleinen Joseph erkannt. Als er drei Jahre alt war, brachte sie ihm die Worte, Bitte eine milde Gabe und Danke, sowie das Lied Magnificat anima mea Dominum , bei. Er sang dies mit heller Stimme, lautstark und voll Inbrunst. Er ließ auf Kommando sogar Tränen aus seinen großen schwarzen Augen kullern. Die Leute waren gerührt und das zahlte sich aus, der von Elsa herumgereichte Hut füllte sich.
Aber heute war es anders, zum ersten Mal nahm sein Vater Mordechai den Zwölfjährigen mit. Er war ein Musikant, spielte wunderbar mit seiner Fiedel zum Tanz, bei Hochzeiten und sonstigen Festlichkeiten.
Miriam und Mordechai Schapira waren, so wie die Nachbarn und Eltern von Elias Holderlind, Josephs gleichaltrigem Freund, arme Verwandte der reichen Dynastien jüdischer Kaufleute in der Domstadt. Sie wohnten in einem Hinterhof der Judengasse, unweit zur Synagoge mit Blick auf den mächtigen Dom.
«Heute gehen wir zur Christmette, der Gott der Christen wird geboren.»
«Wieso? Gott lebt im Himmel und er ist immer dort.»
«Ich weiß mein Jingele [Fußnote 1]
, doch die Leute hier glauben etwas anderes. Du hast vor zwei Wochen gehört, wie der Lehrer in der Synagoge aus dem Propheten Jesaja gelesen hat?»
Joseph nickte, erinnerte sich aber an nichts, wie so oft war er eingedöst. Es war ihm langweilig und er wartete sehnsüchtig auf das Ende des Gottesdienstes.
«Du hast gehört, wie er von der Geburt des Messias durch eine Jungfrau erzählt hat. Ihr Sohn mit Namen Immanuel, das heißt, Gott sei mit uns, soll der Retter sein, auf den wir warten.»
«Das hab ich schon mal gehört!», freudig unterbrach er seinen Vater.
«Die Christen meinen aber, dass der Sohn von Maria, der Messias sei. Wir glauben dies nicht und warten noch auf ihn.» Wieder nickte der Junge zustimmend, verstand nicht, von was Vater erzählte.
«Vor vielen hundert Jahren wurde dieser Jesus von den Römern gekreuzigt, die Christen geben uns Juden die Schuld daran, darum hassen sie uns.»
Mordechai nahm einen Schluck aus der Teeflasche und fuhr fort: «Er wird jedes Weihnachten neu geboren, dann zu Ostern wird er getötet. Du hast schon hinterm Dom das große Holzkreuz gesehen?»
Joseph nickte.
«So ein Kruzifix, wie man das Holz mit dem Mann nennt, soll auch ihm Dom stehen, nur viel herrlicher in Gold gefasst. Der Gott bei den Christen heißt Jesus. Aber so genau weiß ich das nicht, da fragst du den Rebbe [Fußnote 2]
Menachem Mendel.»
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