Ein seltsames, brennendes Gefühl machte sich in Pamelas Brust breit. Fast fühlte es sich an wie Eifersucht. Sie starrte zum Fenster hinaus und sah, dass es leicht zu nieseln begonnen hatte. In letzter Zeit kam es öfter vor, dass Melanie nicht erreichbar war, was Pamela sehr seltsam fand. Der Verdacht lag nahe, dass Melanie etwas zu verbergen hatte. Vielleicht hatte sie jemanden kennengelernt, was sie Pamela nicht sagen wollte, damit sie sie nicht verletzte? Pamela stand auf und trat näher ans Fenster. Sie fröstelte. Was, wenn es wirklich so war? Was, wenn ihre beste Freundin plötzlich nicht mehr so viel Zeit mit ihr verbringen wollte?
Pamela bekam ein schlechtes Gewissen, denn sie wusste, dass sie es ihr nicht wirklich vergönnen würde. Sie war die Ältere und seit zwei Jahren Single. Hätte sie nicht als Erste etwas Glück verdient? In dem Moment, als ihre Stimmung den Nullpunkt erreichte, läutete ihr Handy. Am anderen Ende meldete sich mit gewohnt fröhlicher Stimme ihre beste Freundin. Aller Trübsinn war wie fortgeblasen, als Melanie erklärte, das Telefon nicht gehört zu haben, da sie unter der Dusche stand. Pamela seufzte. Sie machte sich ständig sinnlose Sorgen. Sie verabredeten sich für halb acht zum Essen beim Chinesen in der Innenstadt.
„Ich muss dir etwas gestehen“, begann Pamela, nachdem sie die Stäbchen zur Seite gelegt, und sich mit der Serviette den Mund abgewischt hatte. Melanie steckte den letzten Bissen Reis in den Mund und sah sie fragend an. Als Pamela nichts sagte, nuschelte sie etwas Unverständliches und legte das Besteck beiseite. Sie hasste diese doofen Stäbchen, dir ihr andauernd durch die Finger rutschten und alles, was sie bereits mühevoll aufgeladen hatte, wieder auf das Teller zurückplumpsen ließ. Melanie lehnte sich zufrieden in ihren Sessel zurück und der Kellner eilte sofort herbei, so als hätte er nur darauf gewartet, dass sie endlich den letzten Bissen gegessen hatten. Mit einer freundlichen Verbeugung servierte er die leeren Teller ab.
„Was willst du mir denn gestehen?“, fragte Melanie nun wirklich gespannt. Pamela bereute es bereits, dass sie damit angefangen hatte. „Ich denke wir bekommen ein Problem, wenn eine von uns beiden einen Mann kennenlernt“, begann sie und versuchte, sich auf die kleine tanzende Flamme der Kerze in der Mitte des Tisches zu konzentrieren. Melanie setzte sich etwas auf, um ihrer Freundin besser in die Augen sehen zu können.
„Was genau meinst du damit?“, fragte sie etwas gereizt, obwohl sie wusste, auf was Pamela anspielte. Als diese aber nicht gleich antwortete, beschloss Melanie, ihr diese Arbeit abzunehmen.
„Nicht WIR bekommen ein Problem, sondern DU bekommst eins! Ich nehme an, dass du mir damit sagen möchtest, dass du es mir nicht vergönnen würdest, einen Freund zu haben. Ich, im Gegenteil, würde mich für dich freuen“, sagte sie und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Sie war sehr ärgerlich. Pamela hatte augenblicklich ein schlechtes Gewissen. Ihre Freundin hatte recht, es war egoistisch. Sie schämte sich dafür.
„Es tut mir leid, Melanie. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Ich habe eine furchtbare Phase. Vor ein paar Wochen noch dachte ich, dass es jetzt endlich bergauf geht. Ich dachte, ich sei glücklicher. Ich lese schlaue Bücher, ich versuche dankbar zu sein. Ich … aber irgendwie schaffe ich es trotzdem nicht“, sie machte eine Pause. „Du bist meine beste Freundin und ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ich dich verliere. Wenn du nichts mehr mit mir unternimmst, dann habe ich überhaupt keine Lebensfreude mehr“, sie starrte weiter in die Flamme. Melanie sah sie etwas befremdet an. Irgendwie gefiel ihr dieser Charakterzug an Pamela überhaupt nicht. Was sollte diese Eifersüchtelei, noch dazu, wo momentan überhaupt kein Grund dazu bestand.
Von einem Nebentisch aus hatte ich die ganze Unterhaltung mitangehört. Eine meiner Stärken – oder man konnte es auch Schwächen nennen – bestand darin, dass ich mich uneingeschränkt in das Gefühlsleben meiner Mitmenschen hineindenken konnte. Vielleicht hatte das aber auch etwas mit meiner Andersartigkeit zu tun, die mich zu emotionalen Höchstleistungen anspornte. Wieder stieg dieses Gefühl in mir hoch, welches ich Angst nannte, das mich auf eine seltsame Weise reizte und weitertrieb. Eine leise Stimme, die mich zwang Sachen zu tun, die eine „nette“ Augustine, nie machen würde.
Diese Melanie gefiel mir ausgesprochen gut. Sie wirkte mit ihren eng beieinanderliegenden, dunkelbraunen Augen, wie eine zarte Elfe. Sie war blass, sehr blass sogar, fand ich, aber das ließ sie nur noch lieblicher erscheinen. Ich verspürte einen momentanen Drang, sie beschützen zu müssen.
Gleichzeitig fiel mein Blick auf ihre Schuhe.
Ich schloss die Augen, mir wurde übel.
Mir wurde umgehend klar, vor was ich sie beschützen wollte.
Vor mir!
Sabina knallte meine Bürotür zu. Ich hörte ihre Absätze hart auf dem Parkettboden auftreten, was mich bei jedem „Klack-Klack“ zusammenzucken ließ. Ich verstand ihre Wut und ich wusste es zu schätzen, dass sie sich Sorgen um mich machte, wo sie doch instinktiv spürte, dass ich mich von ihr abwandte. Ich musste versuchen, den Schaden, den ich mit meiner Flucht aus ihrem Leben anrichten würde, in Grenzen zu halten. Wie schlecht würde ich sie behandeln müssen, damit sie froh wäre, wenn ich aus ihrem Leben verschwinden würde, fragte ich mich.
Es tat weh.
Ich wollte meine beste Freundin weder verletzen, noch verlieren. Ich musste einfach Zeit gewinnen. „Frau Schreiber, haben Sie über mein Angebot nachgedacht?“, säuselte mein Chef, indem er den Kopf bei meiner Tür hereinsteckte und mich durch seine dicke, unmoderne Brille lächelnd ansah. Ich schüttelte langsam den Kopf, denn ich musste mich zuerst wieder fassen, dachte ich doch, Sabina wäre zurückgekommen, um mit mir zu sprechen. „Bitte geben Sie mir noch ein paar Tage Bedenkzeit. Ich war so überrascht über Ihr Angebot, dass ich mich erst an den Gedanken gewöhnen muss“, sagte ich etwas zaghaft, räusperte mich und schluckte den „Frosch“ hinunter, der mir in der Kehle saß. Eigentlich störte mich mein Chef beim Weinen, denn ich war gerade im Begriff mich in Selbstmitleid zu suhlen und meinen Tränen freien Lauf zu lassen. „Solange Sie wollen. Ich werde auf Sie warten“, flötete er, als wäre er mein Bräutigam und wartete hoheitsvoll auf das „Ja-Wort“ seiner Braut. Unwillkürlich musste ich lächeln, denn ich fand ihn rührend, meinen – ach, so väterlichen - Chef. Irgendwie fühlte ich mich meiner Tränen beraubt, denn weinen konnte ich nun vergessen. Er hatte mich auf völlig andere Gedanken gebracht.
Ich schweifte ab in die Vergangenheit. Mein Gehirn versuchte Bruchstücke der Erinnerung an meinen Vater zu rekonstruieren, die sich aber nicht fassen ließen und mir nach schemenhaften Darstellungen wieder entglitten. Er war nie da, er trank und spielte. Erst als ich erwachsen war verstand ich, dass er mit seinem Leben und einer Tochter überfordert war, die bis zum zehnten Lebensjahr kein Wort sprach. Meine Mutter hatte ich nie kennengelernt - angeblich bei der Geburt verstorben. Ich zweifelte jahrelang an dieser Botschaft an ein kleines Mädchen, dass sich nichts sehnlicher wünschte als eine Familie. Die Jahre nach dem Tod meines Vaters sind mir nur ganz verschwommen in Erinnerung. Man gab gut acht auf mich, man erzog mich, man lehrte mich zu arbeiten. Man war froh, als ich mein Leben selbst in die Hand nahm und aus dem Heim auszog.
Im Alter von neunzehn Jahren wusste ich noch nicht einmal, dass es ein ICH gab. Ich konnte mich allein durchbringen. Mein Job als Buchhalterin erwies sich als eine gute Sache, denn ich bekam in jeder Stadt Arbeit, ohne lange suchen zu müssen. Ich war nicht glücklich, aber ich erfüllte meine normalen Bedürfnisse auf eine recht zufriedenstellende Art. Meine Wohnung richtete ich genau wie auf einem Bild in einem dieser Hochglanzwerbeprospekte ein, das ungefragt in meinem Postkasten landete. Meine Fantasie war diesbezüglich sehr begrenzt, denn ich hatte nie gelernt, mich zu entfalten. Ich konnte nicht wirklich kochen, deshalb nahm ich den Großteil meiner Mahlzeiten in einem kleinen, heruntergekommenen, aber deshalb spottbilligen Lokal ein, das in meiner Straße lag. Ich kann mich noch genau an diesen schicksalhaften Tag erinnern, als alles begann:
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