Ich hatte die Stadt zu verlassen.
Auf dem Kästchen neben mir stand mein Lieblingsparfüm. Ohne es bewusst zu registrieren, griff ich nach dem Fläschchen und schleuderte es gegen den Spiegel, der augenblicklich in Tausend Scherben zerbarst. „Ich hasse dich, Augustine Schreiber!“, schrie ich und ließ mich zu Boden gleiten. Dass ich an der rechten Hand blutete und über die Scherben hinaus ins Wohnzimmer rannte, bemerkte ich erst am nächsten Morgen, als ich mich im Bett aufsetzte. Beim Anblick der Blutflecke erinnerte ich mich sofort wieder daran, dass ich in der Nacht meinen Impuls erhielt, mein Leben zum x-ten Mal zu verändern. Doch noch nie war es mir so schwergefallen wie jetzt. Meine Hände zitterten, als ich die Kaffeemaschine einschaltete.
Ich musste Zeit gewinnen.
Obwohl auch Sabina etwas verkatert wirkte, winkte sie mir dennoch freundlich zu, bevor sie in ihrem Büro verschwand. Trotz Schlafmangels konnte ich mich gut auf meine Arbeit konzentrieren, und es machte mir überraschenderweise Spaß. Mein Chef lobte mich für meine Leistungen. Nach der Mittagspause orderte er mich erneut in sein Büro, das sehr modern und schlicht eingerichtet war. Immer, wenn ich es betrat, freute ich mich über die vielen Pflanzen, die den Raum sehr lebendig machten, und ich fragte mich, was ich falsch machte, denn meine Blumen und Topfpflanzen ließen regelmäßig die Köpfe hängen und die Blätter waren meist stumpf und braun, egal, ob ich sie viel oder wenig goss. Mein Verdacht plädierte auf „zu wenig“ oder „zu viel“.
Er bot mir freundlich lächelnd einen Sessel ihm gegenüber an, faltete die Hände vor sich und sah mich durch seine Brille an. Gelassen und etwas traurig erwiderte ich seinen Blick, denn ich wusste, dass ich sein Angebot nicht annehmen konnte. „Aber Sie müssen!“, versuchte er es noch einmal, „Sie sind eine begabte, junge, ehrgeizige Frau. Ich habe großes Vertrauen zu Ihnen. Bitte überlegen Sie es sich gut. Eine Assistentin wie Sie kann sich ein Vorgesetzter nur wünschen“, mit diesen Worten begleitete er mich bis zu meiner Bürotür. Ich schloss die Tür hinter mir und ließ mich auf meinen Sessel plumpsen.
Vielleicht hatte ich mich auch nur geirrt, ging es mir durch den Kopf. Oder was wäre, wenn ich mich einfach weigerte?
Was wäre, wenn ich mich wehrte.
Es war das erste Mal, dass ich eine Stadt nicht verlassen wollte. Ich fühlte mich wohl hier und ich wollte, dass es aufhörte…
Fünf Anrufe in Abwesenheit von Sabina zehrten an meinen Nerven und ich schaltete mein Handy aus. Es schien mir unmöglich, in meinem momentanen Gefühlszustand, mit ihr zu sprechen. Ich zog mir etwas Bequemes an und ging in den Keller. Zuerst zählte ich die Schuhschachteln. Es waren dreiundachtzig. Ich hatte fünf große Müllsäcke mitgebracht, um die Schuhe zu entsorgen. So begann immer meine Flucht in ein anderes Leben. Etwas mühsam kletterte ich auf den Hocker, um an das oberste Regal zu kommen. Auf einer Schachtel las ich:
*Rote Pumps, elegant, zerstörend*
Auf einer anderen stand mit gleichmäßigen Buchstaben:
*Braune Sandalen, salopp, freundlich gesinnt*
*Hellgrüne Schnürschuhe, bequem, euphorisch*
*Schwarze High Heels, schmerzend, boshaft*
Ich griff nach dieser Schachtel, und zog sie etwas nach vor, wobei sie mir aus der Hand glitt und mit einem dumpfen Knall auf dem Boden aufschlug. Der Deckel war heruntergerutscht und ein schwarzer Schuh lag auf dem feuchtkalten Beton. Erschrocken starrte ich ihn ein paar Sekunden lang an. Der schwarze Schuh war wunderschön und aus dem feinsten Leder gefertigt, das man sich vorstellen konnte. Noch immer blieb ich auf dem Hocker stehen und wagte mich nicht hinunter. Ich wollte den Schuh auf keinen Fall berühren. Der Deckel lag neben dem Schuh und ich las immer wieder: boshaft, boshaft…
Wie kleine Blitze schossen Momente der Erinnerung vor mein inneres Auge. Es erschienen Bilder, die ich längst vergessen glaubte. Wie um die Erinnerungen zu verscheuchen, schüttelte ich wütend den Kopf. Ich sprang vom Hocker und stand vor dem Schuh. Ein tiefes Verlangen packte mich und ich bückte mich, um den Schuh zu berühren. Doch eine andere Kraft nahm von mir Besitz und wollte mich daran hindern. Ich schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. Minuten später saß ich wieder in der Wohnung und hatte mich allmählich beruhigt.
Pamela bürstete ihre langen Haare und beobachtete sich dabei im Spiegel. Ohne meinen prachtvollen Wuschelkopf bin ich ein unscheinbares Ding, ging ihr durch den Kopf. Pamela arbeitete mittlerweile seit drei Jahren an ihrem Selbstbewusstsein. Sie verschlang alle möglichen esoterischen Bücher, vertrieb sich die Zeit mit psychologischen Werken, wachte morgens auf und dankte Gott für ihr „Dasein“. Von Zeit zu Zeit fragte sie sich, wofür sie danken sollte, wo ihr Leben doch so gar nicht nach ihrem Geschmack verlief. Aber daran war sie im Grunde selbst schuld, wo doch jeder für sein eigenes Glück verantwortlich war. Dankbar sein, das Leben so annehmen, wie es ist und gleichzeitig darauf vertrauen, dass der Himmel nur das Beste für einen will. Haha! Pamela ließ die Bürste sinken und lächelte. Genau! Lächeln nicht vergessen! ermahnte sie sich. Aber eigentlich hatte sie gar keine Lust dazu.
Es war später Nachmittag und sie hatte sich abends mit einer Freundin verabredet. Pamela setzte sich in der Küche nieder und griff frustriert nach der Zigarettenschachtel. Der Aschenbecher auf dem kleinen Tisch quoll beinahe über. Sie schenkte ihm einen verächtlichen Blick, dann zündete sie sich eine Zigarette an und blies den Rauch geräuschvoll zum Plafond hinauf. Der Magen machte sich plötzlich mit einem lauten Knurren bemerkbar. Pamela fiel ein, dass sie seit dem Frühstück keinen Bissen mehr gegessen hatte. Vor einer halben Stunde hatte sie das Geschäft verlassen, in dem sie als Schuhverkäuferin arbeitete. Es war ein schöner, großer Laden, mit ausgesuchten Modellen, kein Konsumtempel, wo von jeder Größe zehn gleiche Paare an Frauenfüßen den Shop verließen, um sich dann in der Stadt an jeder Ecke wiederzutreffen und den eifersüchtigen Blick des Gegenübers standhalten zu müssen. Pamela arbeitete gerne, auch genoss sie das Vertrauen ihrer Chefin, die sie oft zu Einkäufen als Beraterin hinzuzog. Es erfüllte sie mit Stolz und vor zwei Monaten wurde sie offiziell als Einkaufsassistentin zwei neuen Mitarbeiterinnen vorgestellt. Auch war sie es, die die Auslagen gestaltete, und sie erledigte die ihr übertragenen Arbeiten stets zur Zufriedenheit der Geschäftsleitung. Für die Ordnung in den Regalen war ihre Arbeitskollegin Melanie zuständig, deren Arbeit fast im selben Ausmaß gewürdigt wurde.
Melanie war mehr eine Freundin als eine Kollegin, und in ihrer Freizeit trafen sich die beiden Frauen mehrmals die Woche. Die Wochenenden verbrachten sie fast immer gemeinsam. Es gab sogar Überlegungen, dass sie gemeinsam in eine Wohnung ziehen sollten, da beide Singles waren. Obwohl jede froh gewesen wäre, die Abende nicht mehr allein vor dem Fernseher verbringen zu müssen, scheiterte das Zusammenziehen dann doch an Melanie, die zu bedenken gab, dass eine der Freundinnen eine Beziehung haben werde, und es dann nur zu Komplikationen kommen würde. Also blieb es bei den abendlichen Treffen in der Stadt, bei Kinobesuchen und den Wochenendausflügen.
Pamela dämpfte die Zigarette aus, griff zum Telefon und wählte Melanies Nummer. Doch anstatt Melanies meist fröhliche Stimme zu hören, antwortete die Mobilbox. Pamela legte das Handy ärgerlich auf den Tisch und fingerte nervös in ihren Locken herum. Sie wusste selbst nicht, warum sie so schlecht gelaunt war. Das mochte vielleicht am Wetter liegen, oder …
Warum hob Melanie bloß nicht ab?
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