»Was glaubst du, wer hat diesen Romhi ins Jenseits befördert?«, fragte Adam Silarski.
»Bestimmt nicht die Bundeswehr. Unsere Leute sind nicht fähig genug, derartig ausgeklügelte Unternehmungen durchzuführen. Dazu bedarf es Spezialisten.«
»Die Israelis?«, fragte Jerôme.
»Ich tippe eher auf die Amis. Am Tag nach der Auffindung unseres Hauptfeldwebels Müntzer hat sich Oberst Mellenthin mit dem amerikanischen Befehlshaber getroffen. Ich denke, dort ist über den Fall gesprochen worden.«
*
Gegen sechs verließ Jerôme die beiden jungen Männer und fuhr mit dem Rad zurück zum Landhotel Gustav. Als Erstes rief er seinen Vater an. »Ich danke dir, Vater, dass du mich nach Beelitz gebracht hast und dass keine bösen Worte mehr gefallen sind.«
»Du bist unser einziger Sohn, Jerôme, und musst deine Mutter und mich verstehen. Wir ängstigen uns um dich.«
»Ich weiß, Vater. Und es ist berechtigt. Ich weiß, dass der Einsatz in Afghanistan kein Zuckerschlecken ist. Wenn ich zurück bin, werde ich wieder in der Firma arbeiten und mich auf die Geschäftsführung vorbereiten. Vielleicht wäre auch ein BWL-Studium gut?«
»Das wäre es bestimmt. Es gibt noch eine gesunde Grundlage für die Führung eines Betriebes. Die Zeiten, wo linke Tasche – rechte Tasche geht, sind längst vorbei.«
»Ich würde versuchen, an der Viadrina einen Studienplatz zu bekommen«, sagte Jerôme.
»Willst du nicht besser im Westen studieren?«
»Warum? Ich würde lieber an die polnische Grenze gehen. Manchmal ergeben sich dort Kontakte für unser Geschäft und die Viadrina verfügt über einen ausgezeichneten Ruf.«
»Wenn du es willst, kann ich schon mal meine Fühler ausstrecken. Frankfurt an der Oder hat wieder eine funktionierende Gemeinde, da gibt es bestimmt Möglichkeiten.«
»Ich bin einverstanden, Vater.«
»Sei vorsichtig, Jerôme und denke immer dran: Le shana haba ’e̕be Yerushalayim – und im nächsten Jahr in Jerusalem! Massel tov!«
»Ich werde daran denken. Auch für dich, Vater, Massel tov – und gib der Mama einen Kuss von mir.«
Nachdenklich legte jeder der beiden Männer den Hörer wieder auf die Gabel zurück. Der Jüngere dachte, dass er seinen Eltern nicht allzu viele Scherereien gemacht hatte. Nur mit der Entscheidung, zur Bundeswehr zu gehen und sich auch noch freiwillig in ein Kriegsgebiet zu melden, an dem sich schon Großmächte die Zähne ausgebissen hatten und in dem junge Männer ihr Leben lassen mussten. Vor allem aber mit der Trennung von Rachel Cohen hatte er Unmut bei den Eltern hervorgerufen. Es hatte einen Krach gegeben und er, Jerôme, hatte unkontrolliert heftig reagiert. Der Ältere, Samuel Mohr, dachte daran, dass er besser daran getan hätte, die Trennung seines Sohnes von der Nichte des Kantors der jüdischen Gemeinde zu Leipzig zu tolerieren. Nun lag eine unerträgliche, bedrohliche Spannung zwischen Vater und Sohn, die er hoffte, aus der Welt schaffen zu können.
Nur die Mutter hatte ihrem Sohn nicht eine Minute lang gezürnt.
Christoph Senz
5:00 Uhr morgens war die von allen gefürchtetste Zeit des Tages, in der auf den Korridoren erst ein Pfeifen, dann laut der Ruf erschallte: »Auf-ste-hen! Auf-ste-hen! Alle auf-ste-hen!« Begleitet wurde das Schreien an diesem Tag durch ein lautes, blechernes Poltern und lautes Pfeifen, das sich noch einmal wiederholte.
Alternierend war jede der Stuben für eine Woche pünktlichen Weckens verantwortlich. An diesem Tag hatte der Spieß Adam Silarski aus Stube 113 dazu bestimmt, diesen Part zu übernehmen. Am kommenden Morgen würde das Christoph Senz sein, der bereits heute mit Silarski zusammen aufgestanden war und ihm beim Weckruf zugesehen hatte. Silarski hatte gebrüllt wie ein Stier, und als sich nur zaghaft in den angrenzenden Stuben etwas zu rühren begann, hatte er sich eine kleine Mülltonne geschnappt, und diese durch den Korridor geworfen, sodass sein Ruf »Aufstehen! Auf-ste-hen! Alle auf-ste-hen!« – durch das Scheppern des Bleches soweit verstärkt wurde, dass augenblicklich Bewegung in den Haufen kam.
»He, Jerôme … das gilt auch für dich. Heb endlich deinen Arsch aus der Kiste!« Adam Silarski stand vor dem Doppelstockbett des neuen Freundes und rüttelte am Gestell. »Der Spieß kommt gleich durch. Du willst doch nicht zum Strafexerzieren, oder?«
Jerôme Mohr schälte sich aus den Decken und gähnte. Ihm gegenüber stand Christoph Senz. Obwohl fast einen Meter neunzig groß und gut gebaut, gab er ein erbärmliches Bild ab. Wie geistesabwesend starrte er auf das Fenster und durch das hindurch auf einen imaginären Punkt.
»He Christoph, was machst du für ein Gesicht? Morgen bist du dran, den Unsympathen zu geben und die Brut aus den Betten zu treiben«, sagte Jerôme und bemühte sich, einigermaßen lustig zu klingen. »Warst du schon im Waschraum?«
Senz schüttelte den Kopf.
Silarski schaute Jerôme an und hob die Schultern.
»Komm schon, Christoph, schnapp dir dein Handtuch.«
Draußen auf dem Gang wieselte nun ein reges Treiben. Männer kamen, andere gingen zu den Waschräumen. Jerôme beeilte sich, denn die Zeit zwischen Wecken und Stubenappell war nur kurz bemessen. Sie verschwanden im Waschraum und machten einen Schnelldurchlauf wie alle Rekruten, die mit letztem Wind aus dem Bett fanden.
»Was ist eigentlich los mit dir, Christoph? Du scheinst dich hier nicht wohlzufühlen. Oder bist du etwa krank? Da musst du dich beim Sani melden«, sagte Jerôme, als sie fertig waren und zurück zu ihrer Stube gingen.
»Ich will nicht beim Bund bleiben«, sagte Senz leise. »Ich pack das psychisch nicht. Ich gehe hier ein! Bitte sag nichts den anderen Jungs. Die denken sonst, ich bin eine Pfeife.«
»Hatten wir nicht besprochen, wir gehen zusammen nach Afghanistan, reißen dort vier Monate runter, und dann sehen wir weiter. Adam will weitermachen und innerhalb der Bundeswehr aufsteigen. Ich wollte das ursprünglich auch, werde mich aber stattdessen für ein BWL-Studium anmelden und dann einen unserer Betriebe übernehmen. Mein Vater hat mir angeboten, die Manufaktur in Mainz zu leiten, in der wir nach dem Krieg wieder angefangen haben. Für meinen Vater war immer klar, dass er zum Gründungssitz der Mohr-Schokoladenmanufaktur nach Leipzig zurückgehen würde, sollte es zu einem einheitlichen Deutschland kommen. Und prompt haben wir den Hauptsitz der Manufaktur nach Leipzig verlegt, als das wieder möglich war.«
»Ich weiß nicht, was ich machen soll?«, sagte Senz.
»Was heißt das?«
»Das heißt, dass ich nicht glaube, irgendeine Zukunft zu haben, weder hier beim Bund, noch als Bäcker.«
Jerôme lachte. »Ein so junger und gesunder Mann wie du und keine Zukunft haben? Verwechselst du da nicht etwas? Könnte es nicht sein, dass du nur ein wenig die Orientierung verloren hast und nun gleich den Kopf in den Sand steckst?«
»Ich komme nicht mehr mit meiner Mutter zurecht.«
»Dann musst du ausziehen, musst dir eine eigene Wohnung nehmen! Es ist wichtig, sich rechtzeitig abzunabeln. Und abnabeln kann schmerzhaft sein, sowohl für die Eltern als auch für das Kind.«
»Und meine Großeltern werden mir immer fremder. Mein Großvater, zu dem ich immer ein überaus gutes Verhältnis hatte, fängt an, mich barbarisch zu nerven.«
»Das ist eine ganz normale Entwicklung. Denk daran, nur rechtzeitig Nestflüchter zu sein bringt Punkte.«
Wie auf Kommando war der Flur nahezu leergefegt. Nur vereinzelt rannte noch der eine oder andere, als gelte es, das eigene Leben in Sicherheit zu bringen. Die meisten Rekruten waren bereits auf ihren Stuben, warteten auf den Durchgang, den der Spieß allmorgendlich durchführte, und bereiteten sich zum Gangappell vor, wo Durchzählungen und Krankmeldungen erfolgten. Christoph Senz und Jerôme Mohr erreichten die Stube in dem Augenblick, in dem der Spieß mit seiner Begleitung am Anfang des Korridors seine Runde begann. Hastig zogen sie sich fertig an und richteten die Betten. Alle Decken mussten auf Kante liegen, und wehe dem, der das nicht ordentlich machte. Silarski half Christoph schnell noch die Überzüge geradezuziehen, als schon die Tür aufgerissen wurde.
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