Ästhetiken der Intervention
Ein- und Übergriffe im Regime des Theaters
Herausgegeben von Ulf Otto und Johanna Zorn
Recherchen 156
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Verlag Theater der Zeit
Verlagsleiter Harald Müller
Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany
www.theaterderzeit.de
Satz: Tabea Feuerstein
Konzeption und Gestaltung der Buchreihe: Agnes Wartner, kepler studio
Printed in Germany
ISBN 978-3-95749-304-0 (Paperback)
ISBN 978-3-95749-425-2 (ePDF)
ISBN 978-3-95749-426-9 (EPUB)
Recherchen 156
Ästhetiken der Intervention
Ein- und Übergriffe im Regime des Theaters
Herausgegeben von Ulf Otto und Johanna Zorn
Johanna Zorn, Ulf Otto
Einleitung
Azadeh Sharifi
»Noch einen Schritt weitergehen«
Überlegungen zu weißer Imagination, Interventionen und dekolonialen Ästhetiken
Matthias Warstat
Intervention und Dissoziation
Kollektivbildung im politischen Theater
Julia Prager
ver-sammeln und ver-rändern
Zur dislozierenden Intervention der Bürgerbühne bei Vanessa Stern und Bürger:innen ( Schuldenmädchenreport , Dresden 2019)
Sandra Umathum
Von der Kunst, interventionistische Kunst überhaupt zu werden
Simone Niehoff
Künstlerische Interventionen als übergriffige Akte
Wie das Zentrum für Politische Schönheit scheitert
Lars Koch
Performing Artivism
Relevanzanspruch und Popularitätsmanagement beim Zentrum für Politische Schönheit, bei Milo Rau und Friedrich von Borries
Johanna Zorn
Inframinimale Spiele der Differenz
Ein kunsttheoretisches Abtasten des Modells ›Intervention‹
Benjamin Wihstutz
Kippmomente
Über Aktivismus, Theater und Politik
Anna Raisich
Vom Glauben an die Macht der Bilder
Wie man die Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit kritisiert
Ulf Otto
Die Kunst der Umbesetzung
Intervention als Artikulation in Mittelreich (2017)
Marita Tatari
On the change of change
Handlung und Bühne unter gegenwärtigen Bedingungen
Kai van Eikels
Was dazwischenkommt beim Intervenieren
(Nazis, Renovierungen, alltägliches Vergessen)
Autor:innen
Johanna Zorn, Ulf Otto
Einleitung
Im Jahr 2000 nimmt Christoph Schlingensief die FPÖ beim Wort und spielt Big Brother mit Asylsuchenden: Auf dem Platz vor der Staatsoper steht im Rahmen der Wiener Festwochen ein Wohncontainer und jede Woche wird gewählt, wer abgeschoben wird. Darüber prangt ein Plakat mit der Aufschrift »Ausländer raus«. Es entsteht eine Kippfigur aus Kunst und Politik, die die bürgerlichen Werte in den Double Bind nimmt: Wer schweigt, stimmt zu, wer stört, versteht die Kunst nicht. Jeden Tag wird vor Ort, in der auflagenstärksten österreichischen Tageszeitung Krone und im ORF in heftiger Erregung um das Bild gestritten, das von Österreich um die Welt geht, während das Feuilleton genüsslich beobachtet, wie die individuellen und kollektiven Selbstinszenierungen in medialen Rauch aufgehen. Der Filmemacher Schlingensief zerrt das deutschsprachige Theater aus der ästhetischen wie politischen Provinzialität auf die Weltbühne und verleiht ihm das Pathos der Avantgarde. Auf den Container konnte man sich einigen, weil er als Vergleichsgröße eines Theaters der Intervention taugt, das anders politisch sein will, als es Postdramatik und Performativität gedanklich zugelassen haben.
Zugleich aber markiert dieser Container auf dem Opernplatz am Ende des 20. Jahrhunderts einen Moment, der nicht mehr der unsere ist. Die Geste der Entlarvung , die noch den Container umweht, hat einen schalen Beigeschmack bekommen (und Geschmack ist in der Ästhetik bekanntlich eine nicht unwesentliche Größe). Denn einerseits stellt sich die Frage, ob eine solche Demaskierung einer Neuen Rechten heute noch beikommen könnte, die längst die Maske hat fallen lassen und zugleich die demagogische Maskerade professionalisiert hat. Andererseits wiederum muss sich die künstlerische Maskierung, die zur politischen Demaskierung dient, inzwischen die Frage gefallen lassen, was sie für diejenigen bedeutet, deren Gesichter da als Maske dienen. Angesichts der zunehmenden Sorge um die natürlichen wie gesellschaftlichen Umwelten, stellt sich heute also auch an Interventionen grundsätzlicher denn je die Frage, was von ihnen bleibt, wenn der Zirkus weiterzieht.
Intervenieren – vom lateinischen intervenire (dazwischenkommen) – bedeutet, sich einzumischen: von außen kommend, örtlich und zeitlich befristet, in Situationen, die als krisenhaft definiert werden und durch das eigene Handeln zum Guten gewendet werden sollen. Notwendig sind Interventionen daher übergriffig, stellen Souveränität in Frage, erfordern Legitimation und setzen Institutionen voraus, die über Definitionsmacht verfügen: Oberkommandos, Zentralbanken, Seelsorger, die hier im generischen Maskulin stehen bleiben, um die patriarchale Geste, die dem Eingriff innewohnt, nicht zu verschleiern – und seit Ende des 19. Jahrhunderts auch Philosophen. Statt nur Interpretation fordert die elfte Feuerbach-These eben auch Intervention. 1 Sie erschafft damit einen Linksintellektuellen, dessen J’accuse, das seinerseits eng mit der Konstruktion heroischer Männlichkeit verbunden ist, im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts poststruktural und postkolonial dekonstruiert, sich sowohl theoretisch wie praktisch in die distribuierte Artikulation von Dissens auflöst. 2 Bei Maurice Blanchot bleibt ein radikales Nein, das auf eine Not reagiert, welche die Kunst zur Antwort nötigt. 3 Ähnlich entfaltet die Kunst bereits bei Herbert Marcuse ihre »magische Kraft nur als Kraft der Negation« 4 , bei Adorno wiederum ist sie gar das fundamental Nichtidentische, das immer das emphatische »Es soll anders sein« 5 ausrufen müsse. Wichtiger allerdings als diese theoretischen Positionen der ästhetischen Negation sind seit den 1960er Jahren häufig die Aktionen feministischer Performances im Umfeld der neuen sozialen Bewegungen, die dem Dissens und seiner Logik der Unterbrechung die Form geben. 6
In der Kunst tritt die Intervention insofern zumeist in Opposition zur Repräsentation auf. Es ist das programmatische Übergreifen in das Terrain des (Sozio-)Politischen über die Dimension des Ästhetischen hinaus und damit das Überschreiten dessen, was gemeinhin als moderne Autonomieästhetik bezeichnet wird, das Interventionen auszeichnet. In avantgardistischer Tradition relativieren sie einen bürgerlichen Kunstbegriff, der das politische Potential der Kunst gerade in ihrer kategorialen Distanz zur Politik begründet sah, und verbinden mit dem Grenzübertritt nicht zuletzt die Hoffnung auf eine Erneuerung der Kunst.
Daher ist der Ein- und Übergriff der künstlerischen Intervention zuerst einmal Geste, stellt Haltung aus und ist auf die behauptete Wirksamkeit nicht angewiesen. Die Transgression der Dichotomie von Kunst und Politik ist zentral, bleibt aber temporär, so dass sie eher als ein Flirt mit der Überwindung dieser Trennung erscheint, dessen Attraktivität sich gerade aus der zeitweisen konfliktuellen, bisweilen konfrontativen Überlagerung der ästhetischen und politischen Sphäre ergibt. 7 Mehr als fraglich bleibt insofern, ob der Anspruch einer künstlerischen Handlung auf »Realitätsproduktion« tatsächlich so simpel zu bewerkstelligen ist, wie es etwa das kuratorische Team der 7. Berlin Biennale 2012 rund um Artur Żmijewski nahelegte, indem es behauptete: »Wir stellen Kunst vor, die tatsächlich wirksam ist, Realität beeinflusst und einen Raum öffnet, in dem Politik stattfinden kann.« 8
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