Rebekka Kricheldorf - Intervention

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Annika, Frans und Marlene sind in großer Sorge: Lily trinkt zu viel. Das behauptet jedenfalls Annika, berufstätige Ehefrau und Mutter, weshalb sie Frans, Lilys Jugendfreundin und Marlene, die Schwester von Lilys verstorbener Mutter zu einer «Intervention» eingeladen hat. Der Plan ist, nach Lilys Ankunft die Tür zu verriegeln, Statements zum Gesundheitszustand der Freundin vorzutragen und gleich einen Platz im Entzug anzusteuern, den Annika natürlich längst besorgt hat. Doch alles kommt anders, denn Lily weiß sich zu wehren. Ihr genügt ein Besinnen auf die Sucht- und Lebensgewohnheiten der besorgten Damenschar, um den Spieß kurzerhand umzudrehen. Denn wer versorgt sein Kind mit Ritalin, damit es still ist? Wer hat sich mit Psychopharmaka vollgepumpt? Und wer braucht zum Besprechen eines jeden Problems das Plopp-Geräusch der Rotweinflasche? Bei so vielen unterschiedlichen Drogen nimmt es nicht Wunder, dass in Rebekka Kricheldorfs «Intervention» die Droge selbst zur Person gerät und hier und da den Vorhang öffnet oder schließt: «Ich bin die Droge. Ich bin gut und schlecht und hart und weich, lindere und erzeuge Schmerz, mache klug, mache dumm, bin und bin nicht zur gleichen Zeit.» Die Droge – alterslos – ist der Zeremonienmeister dieses bitterkomischen Schauspiels und sie wird darin auch das letzte Wort oder sagen wir: den letzten Seufzer behalten.

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Dieses Werk ist eine Auftragsarbeit des Staatstheaters Kassel.

PERSONEN

LILY, ungefähr Anfang dreißig

ANNIKA, ungefähr Anfang dreißig

FRANS, ungefähr Anfang dreißig

MARLENE, ungefähr Mitte sechzig

DIE DROGE, alterslos

ORTE

Bei Annika

Vor dem Vorhang

PROLOGUS

DIE DROGE steht vor einem schweren Samtvorhang mit goldenen Troddeln. Guten Abend. Wenn ich mich vorstellen dürfte? Ich bin die Droge. Ich weiß, eine recht verwaschene Persona. Ich bin gut und schlecht und hart und weich, lindere und erzeuge Schmerz, mache klug, mache dumm, bin und bin nicht zur gleichen Zeit. Manchen mache ich frei, bin jedoch selbst nicht frei. Ich befinde mich in einem wenig ergötzlichen Zustande der Abhängigkeit vom Geschmack der Zeit, diesem unberechenbaren Lumpenhund. Für den einen bin ich ein kleines Pläsir am Feiertage, für seinen Bruder bereits der Tod. Der einen weite ich den Geist, der anderen vernicht ich ihn. Gab es mich gestern aus der Hand unbescholtener Bürger in weißen Kitteln auf Rezept, werde ich heute in sinistren Parkecken von Burschen in schwarzen Kutten verscherbelt. Mal wird mir gehuldigt wie einem Gott, mal werd ich verteufelt, gejagt und im Klosett versenkt. Dabei blieb ich im Grunde immer ich selbst. Es ist meine untreue Freundin, die Wahrnehmung, die mich unentwegt zu einer Anderen macht. Einst begann ich, fünftausend Jahre vor Christus, als Hopfen. Als man mich dann Achtzehnhundertdreiundfünfzig als Heroin erfand, hatte ich keine Ahnung, was aus mir mal werden sollte. Ich fühlte mich so integer. Ich war eine Arznei! Man sagt von mir, ich begegnete mir selbst frei von Vorurteil. Das stimmt und stimmt nicht. Auch mein Gefühl für mich ist schwankender Natur. An manchen Tagen erwache ich und denke, Tirili! Ich bin die Königin der Welt! Dann tret ich auf mit stolzgeschwellter Brust und blicke froh auf meine Taten. Der Soldat marschiert im Takt seines von meinem Amphetamin beschleunigten Herzen. Die Alte im Sanatorium schlummert selig in meinen morphingetränkten Armen. Der Muselmane tanzt nach meiner Haschisch-Pfeife. Doch dann befällt mich wieder Scham. All die Verelendung, die auf meine Kappe geht. All die zerrütteten Familien, all die verwirrten Geister! In solch dunklen Stunden hätt ich nicht übel Lust, mich mit dem Konsum meiner selbst in ein gnädiges Vergessen zu befördern. Doch sogleich denk ich in die andere Richtung und sprech mich wieder frei von jeder Schuld. Ich habe eine reine Seele. Es sind stets andere, die mich beschmutzen. Armut. Verzweiflung. Unwissenheit. Gier. Und man bedenke: Die gesamte Weltliteratur hat mir fast so viel zu verdanken wie der Liebe! Drüben, am anderen Vorhang, steht sie und buhlt um die Gunst der Menge für ihre Fabeln. Denkt, sie habe leichtes Spiel. Ach, dass ich auf ewig gefangen sein muss im Wettstreit mit ihr um das Wohlwollen der Hörerschar! Doch letzten Endes bin ich es, die viel mehr zu erzählen hat. Sie springt in Ballettsprüngen begeistert hin und her. Sedativa! Dissoziativa! Euphorika! Stimulantia! Hypnotika! Psychedelika! Alles meine Verkörperungen! Meine süßen, kleinen Verkörperungen! Bleibt stehen. Nun, ich bin recht vielseitig. Dennoch gibt es Verkörperungen, in denen ich mir besser, und Verkörperungen, in denen ich mir schlechter gefalle. Als aufgekochter Sud aus unreinen Substanzen zeig ich mich nicht gern. Das ist so räudig! Als Fässchen Rotwein hingegen gefall ich mir recht gut. Womit wir bei unserer heutigen Geschichte wären. Da geht's um mich als Alkohol. Schon wieder, ich weiß! Ein Mann der hohen Politik sagte mir einst, man müsse die Menschen dort abholen, wo sie stünden. Säßen. Nun, seh ich mich um, so scheint mir hier ein kleiner Schwank vom Wein höchst angebracht. Wird es am Ende dennoch Tote geben? Schaun wir mal. Möge das Spektakel beginnen! Sie zieht an der Vorhang-Strippe. Der Vorhang klemmt. Mon Dieu! Quel Malheur! Sie hängt sich an die Strippe. Der Vorhang klemmt immer noch. Zapperlot! Irgendwann geht der Vorhang dann doch auf. Man sieht Annika im kleinen Schwarzen in ihrer Wohnung hektisch auf und ab laufen.

DIE DROGE flüstert Das ist das Fräulein Annika. Es ist in höchstem Maße besorgt. Warum, das werden wir gleich sehen. Geht.

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