1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 Jack lag noch immer auf dem Boden. Er fasste es nicht, dass sie es doch noch geschafft hatten.
„Danke, Kumpel!“ Seine Stimme war nicht mehr als ein leises Krächzen. Mehr brachte er im Moment nicht über die Lippen. Sein Brustkorb hob und senkte sich in gierigen Atemzügen.
„Touché!“, entgegnete Rahul. „Wäre ich in die andere Richtung gerannt, hätten wir es nicht geschafft!"
Jack schwieg. Statt zu antworten, versuchte er auf die Beine zu kommen, fiel aber gleich wieder erschöpft zurück.
Rahul stiess sich mit einem Fuss von der Wand ab und streckte Jack seine Hand hin.
„Ist das auch die richtige?“, fragte Jack.
Rahul verzog das Gesicht. „Garantiert! Darauf kannst du Gift nehmen, so ein Fehler unterläuft niemandem ein zweites Mal.“ Mit einem kurzen Ruck zog er seinen Freund auf die Füsse.
Fast gleichzeitig blickten sie auf die zusammengekauerte Gestalt hinunter, die erschöpft auf dem schmutzig grauen Betonfussboden hockte, die Beine mit den Armen schützend an den Körper gezogen. Langsam hob sie den Kopf. Wirre Strähnen halblangen Haares klebten ihr nass im Gesicht. Das fahle, gelbliche Licht der Notbeleuchtung verlieh ihren Gesichtszügen eine gespenstig blasse Aura. Sie öffnete die Augen; sie waren grün und sie leuchteten wie Smaragde.
Jack streckte ihr seine Hand hin. Zögernd griff sie danach und liess zu, dass er sie auf die Füsse zog. Offenbar steckte noch immer viel zu viel Kraft in ihm, oder sie war leicht wie eine Feder, denn sie prallte direkt an seine Brust. Für Sekunden umfing er sie schützend mit den Armen, während sie taumelnd nach Halt suchte. Sein Herz pochte laut. Ihre Nähe betörte und verwirrte ihn zugleich.
Emma wand sich in seinen Armen, gleich einem Jungvogel, der es satthatte, noch länger in Mamas Nest auszuharren. Als Jack nicht reagierte, legte sie ihren Kopf in den Nacken und blickte zu dem blonden Hünen hoch. „Sie können jetzt loslassen“, sagte sie.
„Oh, tut mir leid …“ Jack räusperte sich verlegen, öffnete aber - wenn auch widerstrebend - die sachte Umklammerung und trat einen Schritt zurück. Entschuldigend hob er die Hände. „Mein Fehler.“
Er stand da und glotzte, wie ein kleiner Junge vor dem Goldfischglas. „Jack Gold“, stellte er sich vor. Seine Stimme klang unsicher, ganz ohne die gewohnt selbstsichere Lässigkeit. „Und dieser Gentleman da drüben“, er zeigte mit dem Finger auf den zweiten Mann im Raum, „ist Rahul Kahn.“
Emma wandte sich Rahul zu. Entschuldigend ergriff dieser ihre Hand mit seiner Linken. Emmas Lippen umspielte ein leises Lächeln, wobei sich ihr rechter Mundwinkel leicht kräuselnd nach unten zog. Das leicht schiefe Grinsen machte deutlich, wie nervös sie war.
„Tut bestimmt weh?“ Sie starrte auf Rahuls Hand. Eigentlich war es keine Frage, eher eine mitfühlende Feststellung. „Ich bin Emma. Emma Schäfer“ – und nach einer kurzen Pause, „Danke! Wärt ihr nicht gewesen, stünde ich jetzt vermutlich nicht hier.“ Alle drei warfen einen stummen Blick auf die geschlossene Tür, hinter der sich die todbringende Lawine aus Wasser, Geröll und Menschenfleisch durch den Tunnel bewegte. „Danke!“, sagte sie nochmals.
„Keine Ursache“, entgegnete Rahul, „wir haben uns gegenseitig geholfen.“ Er hielt das schmerzende Handgelenk hoch. „Hätten Sie nicht so fix reagiert und die Tür aufgehalten, wäre wohl keiner von uns dreien mit dem Leben davongekommen.“
Emma nickte. „Wir hatten Glück und wir sollten die Gunst der Stunde nutzen. Sehen wir zu, dass wir von hier wegkommen.“ Sie zog schaudernd die Schultern hoch. Sie fror; ihre Kleider waren klitschnass.
Rahul zog seine Jacke aus. „Hier, nehmen Sie die, ich brauche sie nicht.“
„Danke!“ Emma zog ihre eigene zerrissene Jacke aus und schlüpfte in die von Rahul. Sie zog sie eng an den Körper. Das Leder war feucht, aber das Innenfutter trocken und warm von seinem Körper. Sie fühlte sich gleich viel besser.
Jack presste sein Ohr auf den kalten Stahl der Tür zur Tunnelröhre. Dumpfes Grollen drang durch den dicken Stahl. „Wir können aber auch hier bleiben, bis Hilfe eintrifft“, schlug Jack vor, „oder wir warten einfach, bis das Wasser aus dem Tunnel abgeflossen ist, und befreien uns dann selbst.“
„Auf beides würde ich mich nicht verlassen“, sagte Emma. „Das kann ewig dauern, bis Rettung hier ist. Die sind garantiert überfordert. Die Feuerwehrleute sind seit Tagen ununterbrochen im Einsatz. Ausserdem werden sie sich erst mal um die Verletzten im Tunnel kümmern, an die sie rankommen, soweit sie überhaupt schon etwas ausrichten können. Und was das Wasser betrifft …“ Emma stockte. „Wie soll ich es sagen? Es ist nur schwer abzuschätzen, wie viel da noch nachkommt.“
Rahul hatte bis anhin geschwiegen und nur zugehört. „Und worin besteht Ihre Alternative? Gibt es überhaupt einen Weg hier raus, einen, der nicht durch den überfluteten Tunnel führt?“, wollte er von Emma wissen.
„Ja“, antwortete Jack und kam Emma damit zuvor. „Aber den richtigen Weg zu finden dauert vermutlich länger, als einfach hier sitzen zu bleiben und auf Hilfe von aussen zu warten.“
„Das kapier‘ ich nicht.“ Rahul drehte sich im Kreis. Der Raum war nicht gross. In jeder der drei gelben Wände befand sich eine Tür. „So wie ich das sehe, bleibt uns doch nur die Wahl zwischen zwei Türen. Was ist so schwierig daran?“
„Der Schein trügt. Ihr Freund hat nicht ganz unrecht. Die Sache hat wirklich einen Haken.“
„Und der wäre …?“
„Hinter einer dieser beiden Türen verbirgt sich ein gewaltiges Labyrinth aus Gängen und Räumen. Um Ihnen das zu verdeutlichen – wir befinden uns in der ehemals grössten Atomschutzbunkeranlage Europas, vermutlich aber der grössten weltweit.“
„Sie wollen mich auf den Arm nehmen?“
„Ganz und gar nicht. Beim Bau der beiden atomgeschützten Autobahntunnels - also direkt hier, wo wir uns jetzt gerade befinden - wurde während des Kalten Krieges, zwischen 1970 und 1976, gleichzeitig auch diese Kaverne erstellt.“
„Eine Kaverne?“
„Ja“, wiederholte Emma, „eine Kaverne. Stellen Sie sich einfach ein Gebäude vor, das anstatt über unter der Erdoberfläche in die Tiefe gebaut wurde. Ein gewaltiges, siebenstöckiges, unterirdisches Haus. In diesem Haus befindet sich: eine Kommandozentrale, ein voll eingerichtetes Notspital inklusive Krankenzimmer, Operationssäle, Röntgenraum et cetera. Eine Radiostation, sowie Mehrzweck- und Nebenräume. Im Kriegsfall hätte die gesamte Anlage Schutzraum für sagenhafte zwanzigtausend Personen geboten, wobei die Bevölkerung in den beiden Tunnelröhren untergebracht worden wäre. Jede von ihnen fasst zehntausend Personen.“
„Und jetzt nicht mehr?“, fragte Rahul
„Na ja, nicht mehr ganz so viele. Nach einer Übung im Jahr 1987 - man nannte sie sinnigerweise: Übung Ameise - wurde die Kapazität auf siebzehntausend Personen reduziert.“
Jack verzog das Gesicht. „Da wurde es sogar den Ameisen zu eng. Stell sich das mal einer vor, hier unten eingesperrt – zusammen mit neunzehntausendneunhundertneunundneunzig total verängstigten Leuten, plärrenden Kindern, sabbernden Alten und Kranken, die alle langsam, aber sicher durchzudrehen beginnen, weil nämlich keiner mehr an ein Morgen danach glaubt. Was bleibt auch schon übrig, nachdem eine 1-MT-Atombombe im Umkreis eines Kilometers aufgeschlagen ist.“ Er schüttelte sich.
Emma sog hörbar Luft ein. „Da bekomme sogar ich eine Gänsehaut. Dennoch, die Regierung muss damals offensichtlich an den Erfolg geglaubt haben, sonst hätten sie wohl kaum, sage und schreibe, fast vierzig Millionen Franken für das Projekt lockergemacht.“
„Ich versteh das nicht. Die Tunnels sind doch nach beiden Seiten hin offen. Sie zu verbarrikadieren, hätte im Bedarfsfall doch bestimmt viel zu lange gedauert?“
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