Doreen legt die Mappe aus den Händen. Trommelt mit den Fingern auf den Tisch.
„Genau das ist die wunde Stelle“, denkt Doreen, „diese Schwäche, diese Ohnmacht, dieses ewige Verzeihen - die gilt es zu kitten.“ Sie steht auf, geht in die Küche, dreht den Hahn auf, lässt Wasser in den Teekessel rinnen, summt dazu die Tonleiter. Das Pfeifen des Teekessels unterbricht sie. Ein Ritual, das ihre aufgewühlte Seele beruhigt, ihre Gedanken klar werden lässt. Noch während sie die brodelnde Flüssigkeit in die Schale gießt, weiß sie, was zu tun ist.
... sie schrie das „tot“ hysterisch in die Leitung ...
Der schrille Klingelton des Telefons war unüberhörbar, auch für Andreas Wurz, der verwirrt aus dem Sessel hochfuhr. Er musste kurz eingenickt sein, denn seit seine Schwester mit Florian nach der Trennung von ihrem Mann wieder in das Elternhaus eingezogen war, wo er, Wurz, mit seiner Mutter wohnte, war an Schlafen nicht mehr zu denken. Das seien die Dreimonatskoliken beim Neugeborenen, da müssten sie durch, hatte die nette Oberärztin zu ihnen gesagt, als er mit weit überhöhter Geschwindigkeit ins Kinderspital gerast war, weil sein Neffe wieder einmal aus voller Kehle geschrien hatte und mit nichts auf der Welt zu beruhigen war. So ging das Nacht für Nacht und er hatte in Erwägung gezogen irgendwann einmal im Büro zu kampieren, einmal auszuschlafen.
„Chefinspektor Wurz“, meldete er sich und seine Stimme hatte diesen kratzigen Unterton, als hätte er die Nacht in seinem Stammlokal verbracht. „Ja, hier Frau Wieser, Herr Inspektor, äh ich mein‘ Herr Chefinspektor, Sie müssen kommen, jetzt gleich! Da bei mir im Glashaus sitzt ein Mann auf einem Sessel, ohne Gewand, nur mit einem Plastiksack über dem Kopf. Bitte kommen Sie schnell in die Laurentgasse 14. Haben Sie gehört? Der schaut echt gruselig aus. Der rührt sich nimmer, ich glaube, der ist tot.“ Sie schrie das „tot“ hysterisch in die Leitung und Wurz entfernte instinktiv den Hörer von seiner Ohrmuschel. „Bin schon unterwegs“, sagte Wurz, „und nichts anfassen, haben Sie gehört?“
Er nahm seine Jacke vom Haken, lief durch das Büro und forderte seinen Kollegen Jäger auf zum Einsatzort mitzukommen. Es war sein erster Einsatz seit der Beförderung zum Chefinspektor und dieser Einsatz würde alles andere als angenehm werden, sollte sich herausstellen, dass das Opfer wirklich verblichen war. Vorsichtshalber verständigte er die Spurensicherung, die beinahe gleichzeitig mit Wurz am Tatort eintraf. Die Besitzerin dieses Grundstückes hatte sich am Gartentor platziert und winkte ihnen.
„Gott sei Dank, dass Sie da sind. Da hinten, da in meinem Glashaus, da sitzt der, angebunden auf meinem Gartensessel. Ich habe immer zu meinem Mann gesagt, dass da drüben“, und sie deutete mit dem Zeigefinger in Richtung Nachbarhaus, „die Sünde regiert. Eine Schande ist es und nicht einmal der Herr Bürgermeister hat diesem Treiben Einhalt geboten. Aber wahrscheinlich zählt er selber zu den Stammkunden. Zutrauen würde ich ihm das, der ist ja mittlerweile schon das dritte Mal geschieden. Das ist nicht normal, oder? Was sagen Sie, Herr Inspektor?“ „Nun mal langsam, Frau Wieser, wir wollen nicht voreilige Schlüsse ziehen. Wenn Sie jetzt so nett wären und uns zu ihrem Glashaus führen würden.“
Es war für Anfang Mai ziemlich warm und diese feuchte Schwüle, die sich im Glashaus bildete, trug das ihre dazu bei, dass Wurz beim Öffnen der Glastür dieser unverwechselbare Geruch, süßlich wie Moschus, vermischt mit alterndem Fleisch, in die Nase stieg. Wer ihn einmal gerochen hatte, der würde ihn nie wieder vergessen, dachte Wurz und seine Bewunderung galt den Gerichtsmedizinern. Hinter einem Elefantenfußbaum, der fast bis zur Decke reichte, entdeckte Wurz den Leichnam. Gefesselt an diesen grünen Gartensessel, nackt, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, mit einem Plastiksack darüber. Wurz streifte sich die weißen Latexhandschuhe über, ging zum Opfer, griff unters Kinn und hob den Kopf einige Zentimeter an. Es war kein schöner Anblick, der sich ihm bot, die Blasenbildung hatte bereits eingesetzt, das Gesicht war aufgedunsen, die Augen quollen aus ihren Höhlen und die Zunge ragte wie eine Knackwurst aus dem Mund. Die von der Spurensicherung machten Fotos und unweigerlich musste Wurz an Hollywood denken, an die Oscarverleihung, an das Blitzlichtgewitter.
„Schaut mir nach einem Sexualdelikt aus“, sagte Doktor Leiner, der Gerichtsmediziner, und begann mit der Untersuchung der Leiche. „Zwischen den Stricken siehst du eine grünliche Verfärbung am Bauch sowie zwischen Nacken und Schulterblättern, das hat mit der Flüssigkeitsansammlung zu tun. Interessant ist, dass Hoden und Penis mit einem Kabelbinder abgebunden wurden. Soll angeblich für eine besonders starke Erektion sorgen. Und was ich noch sagen wollte: Striemen am ganzen Körper könnten von Schlägen mit einem Gürtel oder ähnlicher Gerätschaft entstanden sein.“ Er durchtrennte die Stricke am Oberkörper, lehnte das Opfer nach vorne und zeigte dem Polizisten die dunklen Streifen. „Gut möglich, dass es ein Unfall gewesen ist, beim Herbeiführen einer erotischen Asphyxie, wobei diese sexuelle Vorliebe öfters außer Kontrolle gerät und das Opfer daran erstickt."
„Vielleicht, vielleicht auch nicht“, sagte Wurz, „für mich sieht das eher nach einer Inszenierung aus. Die Frage ist nur, warum gerade in diesem Glashaus die Leiche entsorgt wurde? Möglich, dass er dieser Sadomaso-Szene ein Mahnmal setzen wollte. Kannst du mir vielleicht etwas über den Zeitpunkt des Todes sagen?“
„Vor ungefähr sechsunddreißig Stunden, plus minus, nachdem sich die Leichenstarre vollständig aufgelöst hat.“ Leiner hob den Arm des Toten und ließ ihn fallen, um seiner Aussage Glaubwürdigkeit zu verleihen. „Aber morgen Vormittag sind wir schlauer, da kann ich dir sogar sagen, was er zuletzt gegessen und wann er zuletzt sein Rektum entleert hat.“ Wurz nickte, so genau wollte er das überhaupt nicht wissen. Er ging weiter zu den Leuten in den weißen Overalls.
„Schon irgendwas herausgefunden über die sechs Ws?“
„Mit Wer, Warum, Was, Wann und Wie können wir nicht dienen, für den Rest, das Wo, dafür hätten wir einen Vorschlag“, sagte einer der Männer, lachte und deutete mit beiden Zeigefingern auf den Toten im Gartensessel.
„Danke, Kollegen, das war sehr hilfreich.“
Wurz nahm scherzhalber sein blaues Heftchen aus der Jackentasche, tat so, als würde er sich etwas notieren und verließ anschließend das Glashaus durch die Seitentür, um dieser Wieser, die sicher irgendwo vor dem Haupteingang auf ihn lauerte, zu entkommen. Das Grundstück konnte praktisch jeder betreten, da es nicht eingezäunt und im hinteren Teil über einen Forstweg gut und bei Nacht durch das Dickicht ungesehen erreichbar war. Er würde den Leuten von der Spurensicherung sagen, dass sie diesen Teil des Gartens besonders genau auf Fuß- und Reifenspuren untersuchen sollten. Gut vorstellbar, dass der Mörder mit seinem Opfer von dort gekommen war. Jetzt hingegen wollte er diesem Nachbarhaus, diesem sündigen, einen Besuch abstatten. Neben der Eingangstür, beim Klingelknopf, befand sich ein Türschild, dessen Buchstaben von zu langer Sonneneinstrahlung beinahe verblasst und somit kaum leserlich waren. Wurz tastete sein Jackett ab, war auf der Suche nach seiner Lesebrille, die seit seinem fünfundvierzigsten Geburtstag ein Must-have geworden war. Er wurde fündig, setzte sie auf und nun war es ein Leichtes, die Schrift auszumachen: „Swinger-Club: Donnerstag bis Sonntag von 14 Uhr bis 4 Uhr“. Er schaute auf seine Jacques-Lemans, ein Erbstück seines Vaters, und stellte fest, dass zwar Donnerstag war, aber erst kurz vor Mittag. Trotzdem drückte er den Klingelknopf. Kein Laut drang nach außen. Wurz versuchte es nochmals, ließ seinen Zeigefinger am Knopf, läutete Sturm.
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