Bruno unterbricht seine Arbeit, versucht sich in die Lage dieses André Kleinschmitt zu versetzen. Aber im Moment ist ihm dieser noch zu fremd. Sicher, auch im Westen war und ist es oft von Vorteil, wenn man das richtige Parteibuch besitzt, aber gerade Bruno hat Zeit seines Lebens darauf verzichtet. Er wollte immer unabhängig sein, wollte sein Leben und insbesondere seinen beruflichen Werdegang als Folge seines Sachverstandes und seiner persönlichen Leistung sehen und nicht seiner Beziehungen. Es war ja auch ganz gut gelaufen, das kann er heute mit Fug und Recht behaupten und auch belegen.
Aber ist das wirklich miteinander zu vergleichen? Wir im Westen haben doch auch das System bekämpft. Mein Gott, wenn ich an die Sechziger und Siebziger denke. Wie viele sind damals auf die Straße gegangen, würde ich mir heute mal wünschen. Aber heute ist alles so angepasst, so kritiklos. Die einzigen, die heute auf die Straße gehen, will man eigentlich dort gar nicht sehen. Ob dieser André auch mal demonstriert hat? Vielleicht zum 1. Mai?
Bruno steht auf und geht in die Küche, um sich einen Kaffee aufzubrühen. Da hat er jetzt aber so richtig Pech, Kaffee alle. Er ärgert sich, weil er das heute Morgen beim Frühstück schon gesehen hat und eigentlich gleich runter wollte, um welchen zu kaufen. Nun ja, muss er eben jetzt gehen. Auf Kaffee verzichten will er nicht und außerdem kommt ihm die schöpferische Pause gerade recht, kommt er auf andere Gedanken. Was er nicht weiß, er gibt dem Verlauf der Geschichte eine völlig neue Richtung und zwar geht das ganz einfach. Der Zufall wartet schon eine Etage tiefer.
"Guten Tag, Herr Hallstein."
Woher kennt die denn meinen Namen, hab mich doch immer noch nicht bei ihr vorgestellt?
"Guten Tag, Frau … äh, wie war doch gleich …?"
"Sie haben Recht, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, sorry, Bachmann, Johanna Bachmann."
Johanna Bachmann, alias Sophia Loren 2.0, streckt ihm die Hand entgegen und schaut ihn mit offenem Blick sehr freundlich an, fast wie, naja, wie soll man sagen, als ob sie diesen offenen Blick mal gelernt hat. So schauen oftmals Ärzte oder Pfarrer oder Unternehmensberater. Einfach so richtig offen, freundlich, selbstbewusst und ein wenig provozierend. So nach dem Motto: Schau mal, wie toll ich schauen kann. Da bist du beeindruckt, gell? Bruno gibt ihr die Hand und murmelt etwas von angenehm und hängt seinen Namen auch noch einmal hinten ran.
"Vielleicht ganz gut, dass wir uns treffen, ich wollte nämlich schon gestern Morgen zu Ihnen …"
"War es etwa zu laut? Mein Gott, das tut mir leid. Diesmal war Werner aber auch wirklich völlig daneben. Der hatte wohl vorher schon etwas getrunken, weiß auch nicht warum. Dann hatte er auch noch die falsche Rolle, naja, da ist dann etwas außer Kontrolle geraten. Normalerweise habe ich das immer alles im Griff. Also tut mir unendlich leid, kann ich das irgendwie wieder gutmachen?"
Bruno guckt aus der Wäsche wie jemand, der nur Bahnhof versteht.
"Sie verstehen nur Bahnhof, wie? Passen Sie auf, ich lade Sie zu einem Kaffee ein und erkläre Ihnen alles ganz genau. Einverstanden?"
Kaffee? Hm, spare ich mir einen Weg, wollte ja sowieso Kaffee trinken. Warum also nicht?
"Gerne. Aber Sie müssen mir ja nicht erklären …"
"Doch, doch, kommen Sie, wir sind auch allein, die beiden Männer sind in Köln zu einer Weiterbildung."
Eine Stunde später hat Bruno zwei Tassen Kaffee getrunken und drei Butterkekse mit Bitterschokolade gegessen, schon immer das letzte, was er essen wollte. Es erklärt sich aber ganz leicht. Diese Sophia Loren 2.0 ist nämlich im wirklichen Leben Frau Dr. Johanna Bachmann, von Beruf Diplom-Psychologin, man könnte sagen a.D., weil sie ihren Beruf nicht mehr ausübt. Aber sie hat nichts verlernt, kann nach wie vor Menschen so manipulieren, dass sie sogar Butterkekse essen. Sie hat sich inzwischen ganz der Politik verschrieben, sitzt im Berliner Abgeordnetenhaus mit der Aussicht, bei der nächsten Wahl in den Deutschen Bundestag einzuziehen. Jedenfalls ist sie in der Liste ihrer Partei so weit nach oben geklettert, dass die schon sehr schlecht abschneiden müsste, was nach Meinung aller Demoskopen ausgeschlossen werden kann. Außerdem wird sie noch in einem Wahlkreis als Direktkandidatin antreten. Ihre beiden Mitbewohner, Werner Majewski und Sebastian von Holdt sind alte Bekannte und eigentlich gute Freunde. Beide haben ihren ursprünglichen Beruf aufgegeben und arbeiten als Immobilienmakler in von Holdts Firma, die er vor ein paar Jahren von seinem Vater übernommen hat. Dadurch sind sie auch an diese Wohnung gekommen. Die alten Besitzer waren verstorben und der Sohn als einziger Erbe hatte kein Interesse, wohnt irgendwo in NRW. Das alles interessiert Bruno eigentlich gar nicht. Das alte Ehepaar, das hier in dieser Wohnung unter ihm wohnte, kannte er so gut wie nicht. Ganz selten haben sie sich im Treppenhaus getroffen und dass sie inzwischen verstorben waren, hat er nur am Rande mitbekommen. Naja, umso mehr mitbekommen hat er jetzt die neuen Bewohner, diese kleine WG, oder wie soll man sagen?
***
So, und nun zum interessanten Teil der Geschichte, die Sache mit dem Spiel. Johanna Bachmann hat im Rahmen ihrer Dissertation dieses als Therapieinstrument erdachte Spiel entwickelt. Aus einem verdeckten Stapel von Karten müssen die Mitspieler oder Patienten, wenn man so will, jeweils eine Karte ziehen. Auf diesen Karten sind bestimmte Rollen definiert, die der jeweilige Spieler nun für die Folge einzunehmen hat. Dann zieht der Spielleiter aus einem weiteren Stapel eine sogenannte Themenkarte. Damit ist der Verlauf des Spiels vorgegeben. Das Thema wird von allen Teilnehmern in der Folge diskutiert, aber nicht aus ihrer persönlichen Sicht, sondern aus der Sicht der Rolle, die sie zu spielen haben. Die einzige in dem Kreis, die das Spiel vollkommen kontrollieren kann, ist Johanna Bachmann selbst, da sie alle Karten und somit auch alle Rollen kennt. Es kommt schon häufig vor, dass sie auch eingreifen muss, besonders wenn jemand seine Rolle überzieht, wenn er sie vielleicht aus Unwissenheit gar nicht authentisch auslegen kann. Wer könnte schon die Rolle eines Mörders überzeugend spielen? Zum Schluss müssen alle die Rollen der jeweils anderen Mitspieler erraten. Wer dabei die meisten Treffer erzielt, hat das Spiel gewonnen. Bruno spürt etwas von der Leidenschaft, mit der Johanna Bachmann erzählt und, wenn er ehrlich ist, er kann sich ganz gut vorstellen, dass in gewissen Situationen die Post abgeht. Hat sich ja nicht jeder so gut im Griff.
"Sonntagabend ist mir das Ganze etwas entglitten. Erstens hatten meine beiden Mitbewohner zwei Leute angeschleppt, die ich bis dahin nicht kannte, und dann habe ich leider zu spät bemerkt, dass Werner etwas angetrunken war. Er trinkt eigentlich ganz selten Alkohol, weil er weiß, dass er dann schnell aggressiv wird. Aber da muss auch schon vorher zwischen den beiden Kampfhähnen etwas vorgefallen sein, ich weiß nicht was. Sie kabbeln sich öfter mal, wenn es um Geschäftsfragen geht. Wenn dann Sebastian auch noch heraushängt, dass es sich bei dem Immobilienbüro um seine Firma handelt, und das tut er ab und zu, kann Werner schon richtig sauer werden. Ich denke jedenfalls, dass das Spiel an diesem Abend nur ein Scheingefecht war. Die hatten schon vorher Streit."
"Scheint ja ein interessantes Spiel mit interessanten Teilnehmern zu sein."
"Naja, wenn ich ehrlich bin ist es schon mitunter schwierig, wir könnten mal frisches Blut gebrauchen. Es macht einfach mehr Spaß, wenn man öfter mal neue Leute dabei hat. Wir kennen uns eben auch sehr gut und sehr lange. Das kann man merken und das kommt dem Spiel nicht gerade zugute. Ist ja ursprünglich auch nicht als Unterhaltungsspiel gedacht, sondern als ein Therapiebestandteil für bestimmte Patienten."
"Im Klartext, Sie therapieren also Ihre Mitbewohner, ohne dass die es merken?"
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