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Bruno wirft einen Blick auf die Uhr, gerade mal später Nachmittag. Sonntagnachmittag, was für eine dämliche Zeit. Alle, die ihn näher kennen, wissen, dass Bruno kein Freund des Sonntags ist, noch nie war, schon allein wegen des folgenden Montags. Aber nun ist er ja schon seit Jahren im Ruhestand, könnte den Sonntag eigentlich genießen. Kann er aber nicht, er hasst diese Melancholie, diese Kurortatmosphäre, quasi Bad Berlin-Tegel.
Heute sagt man wohl Entschleunigung, diesen Begriff kannte man früher noch gar nicht und trotzdem war der Sonntag doof. Ich muss aber etwas dagegen tun, ich muss raus. Kann ich heute schon wieder zu Harry?
Bruno schreibt eine Message an Karla, fragt so etwas hintenherum, ob sie sich heute noch treffen würden, oder ob diese Hanna sie den ganzen Tag über beschäftigen würde, ziemlich geschickt ausgedrückt. Er bekommt auch keine Antwort, jedenfalls nicht gleich. So macht er sich allein auf den Weg. Er könnte ja auch ins 'da Vinci' gehen, die haben durchgehend warme Küche. Im Treppenhaus ist es auch totenstill und Bruno ist bemüht sich dieser Ruhe anzupassen. Aber wie das so ist, genau das Gegenteil tritt ein. Tritt ist überhaupt das richtige Wort, jeder Tritt ein Urknall, wobei der wahrscheinlich völlig lautlos war. Bruno hat das Gefühl, dass er diese Treppe noch nie so laut heruntergegangen ist wie gerade eben. Das ist wie neulich, als er schon aufgestanden war und eigentlich Karla noch in Ruhe schlafen lassen wollte. Aber jedes Umblättern der Zeitungsseiten ein Peitschenknall, sogar die Schluckgeräusche beim Trinken schienen unnatürlich laut durch den Raum zu dröhnen, wie Donnerhall. Endlich auf der Straße fühlt er sich erlöst, hier sind wenigstens auch noch ein paar andere Menschen unterwegs, auch Autos fahren vorbei, Leben. Auch im 'da Vinci' ist es gar nicht mal so leer, da haben wohl auch noch andere Menschen das Bedürfnis unter Menschen zu sein, oder einfach nur Hunger. Bruno wird freundlich von Laura begrüßt und in seine Lieblingsecke geleitet. Zur Erinnerung, Laura ist die Tochter von Frau Krause und Zwillingsschwester von Fabrizio. Bruno weiß auch nicht warum, aber spontan fällt ihm ein alter Schlager ein, 'Man müsste nochmal zwanzig sein'. Als könnte sie Brunos Gedanken lesen, meldet sich Karla auf seinem Handy. Er ist kurz versucht, den Anruf zu ignorieren, andererseits ist er von jeher ein Freund von Deeskalation.
"Hallo Bruno, wo bist du gerade?"
"Ach, ich schlendere ein wenig am See entlang, habe schon sehnsüchtig auf deinen Anruf gewartet."
"Quatschkopp, sag mal, hättest du Lust mit uns essen zu gehen? Also mit Hanna und mir, du kennst dich doch besser aus. Hier in Hermsdorf gibt es doch bestimmt auch das eine oder andere gute Restaurant."
"Wie, ich mit zwei Frauen? Was wollt ihr denn mit mir? Ihr habt euch doch so lange nicht gesehen, da störe ich doch nur. Außerdem habe ich schon ein Glas Wein getrunken."
"Ein ganzes? Oh je, da kann mein Bruno nicht mehr fahren? Mann, da scherst du dich doch sonst nicht drum, nicht mal bei drei Gläsern. Los, komm schon, wir sind auch ganz lieb zu dir. Du bist der Mittelpunkt, ich möchte dich gerne meiner besten Freundin vorstellen. Die wird dir gefallen."
Nun ja, diese Andeutung ist es wohl, die Bruno dann doch weich werden lässt. Laura schaut zwar etwas sparsam, als er das Lokal so schnell wieder verlässt, ist aber sofort versöhnt, nachdem Bruno von dem Überraschungsanruf berichtet. Er hat sich mit Karla und dieser Hanna vor einer Weinstube in Hermsdorf verabredet, die schon seit Jahren den besten Ruf genießt, einmal für die gute Küche und natürlich für das sehr ausgewogene Weinsortiment. Zum Glück hat er die Autoschlüssel dabei, muss also nicht noch einmal nach oben. Die Fahrt geht schnell und etwas überrascht stellt er fest, dass es genügend Parkplätze direkt vor dem Restaurant gibt, schlechtes Zeichen. Er steigt aus und sieht schon von weitem, dass der Laden zu hat. Ein Blick auf die Karte zeigt auch warum. Sonntag, Montag und Dienstag wegen Reichtum geschlossen. Karla und ihre Freundin sind noch nicht zu sehen und Bruno überlegt, was er tun könnte, warten, anrufen, wieder abhauen. Er entscheidet sich für warten. Er hat es sich gerade im Auto gemütlich gemacht, da sieht er die zwei Frauen auf sich zukommen. Jetzt muss er erst einmal schauen, ob diese Hanna ihm wirklich gefällt. Naja, was soll man sagen? Er wüsste nicht so genau, für wen er sich entscheiden würde, vorausgesetzt die Entscheidung stünde an. Wobei, an Karla perlt alles ab, die würde sogar gegen Sophia Loren Originale den Punktsieg davontragen. Aber Hanna ist schon eine auffallende Erscheinung, gar nicht mal so eine makellose Schönheit, überhaupt nicht, aber ein Typ ganz besonderer Art. Sie wirkt auf den ersten Blick etwas zurückhaltend, aber Bruno merkt sehr wohl, dass sie ihn auch genauestens taxiert. Karla übernimmt die knappe Vorstellung und beobachtet ihren Bruno dabei ganz konzentriert, sie kennt ja ihren Verlobten, Herrn Pappenheimer. Die Enttäuschung über die geplatzte kulinarische Verabredung hält sich in Grenzen, besonders als Bruno sich anbietet die beiden Frauen ins 'da Vinci' einzuladen. Mit einem kurzen Anruf reserviert er vorsichtshalber einen Tisch. Dann fahren sie los. Bruno weiß auch nicht weshalb sich Karla für den Rücksitz entschieden und ihre Freundin geradezu auf den Beifahrersitz geschoben hat. Vielleicht eine Prüfung?
Fall ich aber nicht drauf rein, liebe Karla, auch wenn der Anblick ihrer hübschen Beine schon höchste Anforderungen an meine Disziplin stellt. Aber ich konzentriere mich ganz auf den Verkehr, Straßenverkehr wohlbemerkt!
Laura strahlt als sie Bruno wieder begrüßen darf. Beim Anblick der beiden Frauen verändert sich ihr Gesichtsausdruck in Richtung Donnerwetter, obwohl sie Karla ja schon kennt, aber jetzt noch so eine bella donna …
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Das Essen ist wie immer hervorragend und die beiden Frauen halten sich mit der Unterhaltung sehr zurück, wofür Bruno dankbar ist. Vor dem Essen ja, nach dem Essen sogar sehr gerne, aber während der Mahlzeit bitte volle Konzentration auf die Kunst des Kochs. Niemand geringerer als sein Freund Harry hat ihm das beigebracht. Nachdem Bruno bezahlt hat, verlassen sie das 'da Vinci'. Karla ist die erste, die den Vorschlag macht, noch irgendwo etwas zu trinken. Bruno hält sich bei der Ideensuche etwas zurück, will vermeiden in eine Falle zu tappen. Die könnte sich schnell zur Tretmine entwickeln. Wäre aber so oder so überflüssige Mühe, denn Hanna gibt sehr deutlich zu verstehen, dass sie dringend nach Hause müsse. Karla nimmt sie in die Arme und flüstert ihr etwas ins Ohr. Bruno ist irritiert, kommt sich blöde vor und signalisiert seine Diskretion, indem er zwei, drei Schritte zur Seite geht und in eine andere Richtung schaut. Hilft aber alles nichts, diese Hanna lässt sich nicht überreden, auch nicht von Karla. Sie möchte auch nicht gefahren werden, sondern die U-Bahn nehmen. Karla scheint etwas angefressen, während Bruno schnell noch einen Blick auf die Beine der entschwindenden Hanna wirft.
"Also tut mir jetzt leid, das war anders geplant. Eigentlich hatte sie um ein Treffen mit dir gebeten."
"Wie bitte? Wieso wollte die sich mit mir treffen? Ich kenne sie doch gar nicht. Und du? Wolltest du mich verkuppeln?"
"In gewisser Weise schon, nur nicht so, wie du nun schon wieder denkst."
"Wie denke ich denn?"
"Ach Bruno, das muss ich dir doch nicht erklären, oder? Hanna hat ein Problem, sonst hätte sie auch gar nicht den Kontakt zu mir gesucht. Wir haben uns ja eine ganze Weile nicht gesehen, nicht mal miteinander telefoniert."
Berlin, Montag, 05.10.2015
Der leichte Wind gleitet durch die Kronen der Straßenbäume und trifft auf den Widerstand der sich tapfer gegen das Unvermeidliche wehrenden Blätter. Schon ganz vertrocknet und krumm haben sie keine Chance zu überleben aber zumindest ein beruhigendes Abschiedsrauschen können sie noch hervorrufen. Bruno genießt es, es entspannt ihn. Er liegt auf dem Rücken, hat die Arme unter seinem Kopf verschränkt und ist hellwach, obwohl die Sonne gerade mal vor einer halben Stunde aufgegangen ist. Also so richtig hell ist es noch nicht. Karla scheint im Bad sehr aktiv zu sein, jedenfalls deuten die Geräusche auf eine umfangreiche Schönheitstherapie hin, sozusagen Premiumpflege. Da hat er noch mindestens eine weitere halbe Stunde Zeit die Gedanken zu ordnen.
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