Bruno steht vor seiner Wohnung und auch diesmal konnte er die Tür zu Frau Krauses Wohnung passieren, ohne dass die in Erscheinung trat. Daran muss er sich erst noch gewöhnen. Die Weinflasche landet im Kühlschrank und die Jacke am Garderobenhaken. Dann wirft er einen Blick auf seine Armbanduhr und überlegt, ob er jetzt Karla anrufen soll oder nicht. Ein wenig pikiert war er gestern Abend schon, dass sie so sang und klanglos nach Hause gefahren ist, schließlich waren sie seit zwei Jahren verlobt, was in seinem Alter natürlich völlig normal ist, so mit siebenundsechzig.
Aber ich könnte auch gleich direkt zu ihr hinfahren. Dann kann ich auf dem Weg dahin gleich noch meine Chaise waschen lassen.
Also Jacke wieder an und runter. Diesmal bleibt er im Hausflur nicht allein. Jetzt muss man wissen, Bruno hat ein Frauenproblem, wobei er das gar nicht als Problem empfindet, aber welcher Alkoholiker weiß schon, dass er einer ist? Okay, der Vergleich hinkt, aber irgendwie auch wieder nicht. Allein die letzten sechs Jahre waren Jahre voller Irritationen. Immer wieder traten Frauen in sein Leben, die ihn faszinierten, mal auf die eine, mal auf die andere Art. Einige zeigten ihm die Grenzen auf und machten deutlich, dass er nicht hoffen durfte, andere schieden von vornherein aus, schon aus Altersgründen, also seinem Alter natürlich. Andere wiederum versuchten mit ihm eine reale Beziehung einzugehen, aktuell Karla, immerhin verlobt mit ihm. Man sollte eigentlich meinen, dass ein Mann wie Bruno irgendwann mal seinen Hafen gefunden hat, um das mal poetisch auszudrücken. Gerade mit Karla hatte er ja einen Hauptgewinn gezogen. Aber das zu erkennen ist genau Brunos Schwäche. Nun ist die Frau, die ihm da im Hausflur begegnet auch nicht Frau Krause, die wäre ja an sich überhaupt kein Problem. Das Problem ist diese Frau mit ihrem kastanienbraunen Haar und ihrem Sophia-Loren-Gesicht. Da würde wohl jeder Mann, na sagen wir mal, zumindest tief durchatmen. Wobei Bruno natürlich schon rein generationsmäßig einen Vorteil hat. Jüngere Männer haben Sophia Loren womöglich noch nie gesehen, kennen sie gar nicht. Bruno versucht es mit einem freundlichen Guten Tag. Die Frau grüßt zurück, auch freundlich, das muss man schon sagen, aber eben auch nicht mehr. Die macht ja jetzt nicht den Mantel auf und zeigt, dass sie auch sonst mit Sophia Loren mithalten kann. Also könnte Bruno eigentlich weitergehen und das war's. Aber genau das ist eben die Situation und jetzt doch der Vergleich mit einem Alkoholiker. Wenn der trocken ist, viele Monate, vielleicht Jahre, dann reicht der kleinste Schluck und er ist wieder in dem Dilemma. Bruno kann es sich also nicht verkneifen.
"Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Wollen Sie vielleicht zu mir?"
"Ne, wie kommen Sie darauf?"
"Naja, ich habe Sie noch nie hier gesehen, leider. Und ich kenne alle Leute im Haus. Wir sind ja seit Jahren die gleichen Bewohner."
"Na, scheinbar kennen Sie doch noch nicht alle."
So richtig freundlich hört sich das nicht an. Bruno versteht und entschuldigt sich. Er wollte nicht aufdringlich sein und so weiter. Draußen auf der Straße ärgert er sich über sich selbst.
Mein Gott, wie plump, da habe ich mich ja wieder mal selbst übertroffen. Ich hätte mich ja auch mal vorstellen können, obwohl, wäre sie da nicht in der Pflicht gewesen? Früher hat man sich als neuer Mieter oder Mitbewohner, Nachbar, was weiß ich, den anderen Mitmenschen vorgestellt. Naja, wenn ich sie richtig verstanden habe, dann scheint sie ja jetzt in unserem Haus zu wohnen. Dann werde ich sie ja noch öfter treffen, vielleicht stehen die Sterne dann etwas günstiger, wäre doch gelacht.
Und da sieht man mal wieder, er denkt in dem Augenblick nicht eine Sekunde darüber nach, dass er seit zwei Jahren einen Ring am Finger trägt. Er meint es gar nicht böse, ist einfach nur beeindruckt. Karla versus Sophia Loren, da kommt ja was auf ihn zu.
Er versucht mit Unterstützung von viel Scheibenwaschwasser etwas Klarsicht zu erzeugen. Doch allein das schleifende Geräusch der sich quälenden Scheibenwischer signalisiert schon: keine Chance, eher noch schlechter der Durchblick. Aber Bruno hat ja sowieso nie den vollen Durchblick, insofern Gewohnheit. Er fährt bis zur nächsten Tankstelle in der Berliner Straße und will sich beim Autowasch anstellen, sieht dann aber, dass das Rolltor zur Waschstraße verschlossen ist. So langsam stinkt ihm die Deutsche Einheit. Naja, zumindest kann er hier volltanken, der Spritpreis ist gerade relativ günstig. Während der Zapfhahn vor sich hin gurgelt nimmt sich Bruno einen herumstehenden Eimer mit Schwamm und Wischer und putzt die Frontscheibe. Diesmal wird es wesentlich besser, wobei das Dreckwasser, das er von der Glasfläche abzieht, seinen Weg über die seitliche Karosserie wählt und schöne Spuren hinterlässt. Bruno würde sich gerne die Hände waschen.
Der Tankwart hat rotgeränderte Augäpfel und nuschelt etwas von Waschanlage defekt, Kundendienst erst am Montag und reicht Bruno dabei einen kleinen Schlüssel, mit einem Plastikanhänger, auf dem 'WC' eingraviert ist. Die Tür ist gleich neben einem großen Kühlregal mit verschiedenen Getränkedosen und Plastikflaschen. Die Toilette ist winzig aber erstaunlich sauber und am Handwaschbecken gibt es einen Seifenspender und Papierhandtücher, was will man mehr.
***
Bruno hat sich in den Verkehr eingereiht, der auf dem Weg zur Autobahn Richtung Norden schleicht. Offensichtlich wollen viele Berliner am heutigen Tag ins ehemalige DDR-Umland, vielleicht ein bisschen Wiedervereinigung spüren, immerhin schon 25 Jahre her. Er fährt aber nicht auf die A 111, sondern verlässt die Auffahrt gleich wieder und biegt in den Hermsdorfer Damm ein, geradezu Richtung Karla. Seine Freisprechanlage funktioniert mal wieder nicht und so ist er zur Verkehrsordnungswidrigkeit gezwungen, wobei gezwungen nicht so ganz stimmt, er könnte ja auch mal kurz anhalten, aber an diesem Feiertag wird wohl keine Gefahr bestehen. Die Ordnungshüter sind bestimmt alle gebunden durch die ganzen Veranstaltungen zur Wiedervereinigung. Karla geht nicht an ihr Telefon, was gleichbedeutend ist, dass er überraschend vor der Tür stehen wird und das wiederum mag sie überhaupt nicht. Er ärgert sich im Nachhinein, dass sie sich gestern Abend nicht fest verabredet haben.
Und überhaupt, was soll das eigentlich, dass ich meine Besuche immer vorher anmelden muss? Wenn wir ein Paar wären und eine gemeinsame Wohnung hätten, dann würde ich doch auch nicht jedes Mal anrufen, bevor ich nach Hause käme. Als ob sie ein Geheimnis hütet. Vielleicht hat sie ja einen Lover.
Bruno hat den Hermsdorfer Damm verlassen und kurvt durch die kleinen Straßen dieser idyllischen Wohngegend direkt am Waldrand. Karlas Auto steht in der Einfahrt zur Garage, deren Tor aber geschlossen ist. Bruno passt gerade noch so dahinter und stellt seinen Wagen ganz dicht an den kleinen Fiat heran. Er steigt aus und geht die paar Meter zum Hauseingang über den Rasen. Auf dem Klingelbrett sind zwei Knöpfe, der untere für Dankert, der obere für Zinke, für Insider Karla Zinke. Bruno drückt einmal kurz und wartet etwas angespannt. Keine Reaktion, also noch einmal drücken, diesmal etwas länger. Bruno macht zwei, drei Schritte zurück, um nach oben zu sehen. Soweit er erkennen kann, sind alle Fenster zu, bis auf eines, das Küchenfenster steht auf Kipp. Bei Dankert braucht er es erst gar nicht zu versuchen. Die Hausbesitzer und Vermieter sind mal wieder unterwegs. Bruno erinnert sich, dass ihm Karla letzte Woche eine Ansichtskarte vom Gardasee gezeigt hat. Die beiden Alten sind ewig mit ihrem Wohnmobil auf Achse und wenn nicht das, dann sind sie oft auf Fernreisen mit dem Flieger unterwegs oder auf Kreuzfahrt. Dann haben sie auch noch Kinder weltweit verstreut, USA und Australien. Die muss man auch ab und zu besuchen. Früher hat sich Bruno auch immer vorgestellt, dass er im Ruhestand die ganze Welt bereisen würde, aber je länger er den Ruhestand real erlebt, desto mehr lässt dieser Drang nach, das pure Gegenteil von Blasendruck. Eigentlich ist er mit seinem jetzigen Leben ganz zufrieden, hat nicht so ein Unruhegefühl, unbedingt noch irgendetwas nachholen zu müssen. Nachdem er sein Ingenieurbüro vor ein paar Jahren an seinen Nachfolger verkauft hat, hat er sich diese Wohnung in Tegel leisten können und macht eigentlich nur noch das, was ihm Spaß macht. Er ist zwar kein Millionär, aber in seinem Rahmen kann er sich vieles leisten und mehr als gut essen und trinken kann der Mensch ohnehin nicht, also das ist jetzt das offizielle Glaubensbekenntnis von Bruno Hallstein, wohlbemerkt.
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