Ein weiterer Punkt, den wir mit Erstaunen festgestellt hatten, war, wir überwanden die Gesetze der Raumzeit. Laut Albert Einstein krümmte ein Objekt mit hoher Geschwindigkeit im Raum auch das Zeitgefüge. Das Reisende alterte langsamer als ein Beobachter von außerhalb. Nicht so mit unseren Dimensionsreisen: Während unserer knapp neunundfünfzig Jahre, die wir unterwegs waren, hatte die Erde die gleiche Zeit durchlebt. Das gab uns die Hoffnung, irgendwann einmal noch unsere Familien wiedersehen zu können.
Es dauerte zwei Minuten, bis wir die Lichtmauer nach unten durchbrachen. Sofort sahen wir die Konsequenzen: Um die Tora herum flimmerte das Licht, dann hatten wir das All vor uns. Und auch – Tora’vosh. Auf unserem Schirm hatte sie bereits eine Größe von circa sechzig Quadratmetern.
Ergriffen sah ich unser Ziel. Der Anblick rührte mich zu Tränen. Melina umschloss meine Hand. Tora’vosh war eine gewöhnliche Spiralgalaxie, deren Farbenpracht mich überwältigte. Auch bei Melina flossen Tränen.
Selten hatte ich so viele kraftvolle Farben und Farbnuancen gesehen. Ich konnte mich kaum abwenden. Dann tat ich es aber doch, drehte mich und – staunte erneut. Abgesehen von unserer Zielgalaxie sah ich so viele Galaxien wie noch nie zuvor in meinem Leben! Mein Mund stand offen.
„Tora“, sagte Melina. „Gemessen am menschlichen Auge, wie viele Galaxien sehen wir?“
„Vierhundertzweiundsechzig.“
Ein Gedanke kam mir, bei dem ich lächeln musste. „Tora, wie viele Galaxien siehst du?“
„1.851.701.“
Melina stieß die Luft aus. Auch ich war von dieser gewaltigen Zahl überwältigt.
Melina sah mich an. „Lust auf einen Ausflug?“
Ich lächelte und nickte.
„Tora – Geschwindigkeit auf null, Dimensionstriebwerk auf Stand-by.“
„Wie du möchtest.“
Weltraumspaziergänge hatten wir vor unserem Start bereits gemacht. Im Orbit der Erde und auch über dem Mars. Tora brachte uns Anzüge, die wir überstreiften. Uns standen etliche Funktionen zur Verfügung, doch der Schutz vor dem tödlichen All war die wichtigste.
Mit unseren Gedanken steuerten wir die Anzüge, die in Atmosphären eines erdähnlichen Himmelskörpers flugfähig waren, außerhalb der Tora und liefen über das Chassis. Aufmerksam musterte ich die Oberfläche unseres riesigen Schiffes. Ich beugte mich zu ihr hinunter und fuhr mit der Hand darüber. Technisch bestand sie aus einer Legierung, die fünfhundert Millionen Mal härter war als Diamant, aber trotzdem bei Bedarf biegsam. Außerdem kam noch ein Schutzschirm dazu. Sollten wir jemals in eine kriegerische Auseinandersetzung geraten – wir waren mehr als vorbereitet. Und Tora wachte über uns in jedem kleinsten Bruchteil einer Sekunde.
Das Chassis machte einen guten Eindruck. Die Reise in der künstlichen Dimension war bisher ordentlich verlaufen.
Melina stand direkt neben mir. Ich erhob mich und ergriff ihre Hand. Sie erwiderte meinen Druck und sah mit mir gemeinsam hinauf. Ein Bild, das es sonst nirgends gab innerhalb einer Galaxie. Sobald wir Tora’vosh endgültig erreicht hatten, würden Milliarden Sterne diese Sicht überdecken.
„Das ist einer der Gründe, warum ich Forscher geworden bin.“ Meine Stimme klang ehrfürchtig, bewegt.
Melina nickte. „Ob wir von hier die Milchstraße sehen?“
Ich schüttelte den Kopf, da ich etwas mehr von Astronomie verstand als sie. „Kaum. Dafür sind wir zu weit entfernt. Ihre Helligkeit ist zwar überdurchschnittlich, aber vermutlich wird sie von anderen Galaxien überdeckt.“
Ich schaltete das positronische Interface vor meine Augen. „Tora – kannst du uns die wahrscheinliche Position der Milchstraße zeigen?“
Der Ausschnitt, den Tora uns zeigte, lag in einem Bereich, den ich als Richtung weniger erwartet hatte. Zuerst glich es einem Punkt, den ich etliche Male vergrößerte. Meine Vermutung schien richtig – das Licht vieler anderer Galaxien erschwerte eine Betrachtung, doch Tora tat uns den Gefallen und ließ unsere Positronik so lange rechnen, bis die Milchstraße in einer Größe von circa fünf Zentimetern vor uns lag. Doch …
„Nale, das sieht nicht wie die Milchstraße aus. Das, was wir sehen, ist völlig anders.“ Lina hatte das Gesicht ungläubig verzogen. „Bist du sicher, dass das die richtige ist?“
Ich nickte. „Du musst berücksichtigen, dass wir über elf Milliarden Lichtjahre überbrückt haben. Wir sehen daher unsere Galaxie im Alter von gerade einmal zwei Milliarden Jahren, als sie noch sehr jung war. Das Licht mit dem aktuellen Zustand wird erst in elf Milliarden Jahren hier eintreffen. Würden wir hinüberwinken und diese Aktion mit einem Lichtstrahl unterstützen, würde man dies auch erst in elf Milliarden Jahren in unserer Heimat sehen.“
Melina nickte. „Ja, jetzt ergibt das Sinn. Du hast recht.“
„In dem Zustand, in dem wir sie jetzt sehen, existiert noch nicht einmal unser Sonnensystem. Die Entstehung der Sonne würden wir hier erst in sieben Milliarden Jahren sehen.“
Sie lächelte. Ich spürte, sie war glücklich. Ich war es auch. Doch würden wir je zurückkehren? Diese Antwort stand in den Sternen. Ich lachte bei dem Sprichwort.
„Einen Moment.“ Ich aktivierte mein Arbeitsprotokoll. „Tora, wir führen einige Messungen durch.“
„Arbeit?“ Melinas Augen folgten neugierig.
Ich nickte. „Möglicherweise bekommen wir neue Daten und Hinweise auf die Form des Universums.“
Melina verschränkte ihre Arme. „Dass es keine Kugelform hat, wissen wir.“
Der Messungsprozess lief. Ich wartete gespannt auf die Ergebnisse der Hintergrundstrahlung. „Ja. Ebenso, dass es keinen Urknall gab, wie die Menschen der Spätantike lange Zeit dachten. Unsere Wissenschaftler vermuten eine geschlängelte Ovalform, die eine kreisähnliche Form annehmen könnte.“
„Und wie groß ist dann das Universum?“
Ich zeigte ihr ein Modell, das der Annahme unserer Wissenschaftler entsprach. Die Messungen liefen noch. „In der größten Entfernung vermuten wir über einhundertfünfzig Milliarden Lichtjahre. Wenn wir diese Linie hier als eine Art Radius nehmen, kommen wir auf zwanzig bis fünfundzwanzig Milliarden Lichtjahre. Wir wissen es nur nicht genau.“
„Dann sind unsere elf Milliarden Lichtjahre nicht so viel, wie ich dachte.“
Die Messungen gingen zu Ende. Tora visualisierte die Ergebnisse.
„Wir haben zum Teil normale Schwarzkörperstrahlung.“ Ich hob meinen Arm und ruderte damit umher. „In diesem Bereich und da drüben. Aber im Bereich jenseits von Tora’vosh ändert es sich. Unsere Vorfahren nannten es Gravitationsrotverschiebung. In dem Bereich ist sie am höchsten.“ Ich erklärte ihr die Zusammenhänge.
„Werden die Ergebnisse durch die Zeitdilatation nicht verfälscht?“
Ich schüttelte den Kopf. „Dieser Punkt ist bereits herausgerechnet.“
Melina schwieg einen Moment. „Na gut. Und was sagt uns das?“
„Dass wir der Theorie des länglichen Universums näherkommen und die von mir genannte Größe wahrscheinlicher wird. Wir sind damit höchstwahrscheinlich nicht in der Nähe des Endes des Universums, sondern weiterhin nur mittendrin.“
„Komm.“ Melina zog an meiner Hand. „Ein kleiner Ausflug.“
Wir stießen uns ab und schwebten durch den toranahen Orbit. Zuerst ohne feste Richtung, dann drehten wir uns, flogen in Richtung Tora’vosh. Ich konnte mich erneut kaum sattsehen. Über einhunderttausend Lichtjahre waren wir noch entfernt. Würde man eine Klongalaxie entsprechend drehen und zu uns ausrichten, würden ihre äußersten Ausläufer uns gerade berühren. Ein Ausläufer, der allein ein paar Hunderttausend Sonnen trug.
Eine Stunde später kehrten wir ins Innere zurück, Tora reaktivierte den Dimensionsantrieb und wir nahmen an Fahrt auf.
Zeit für ein zweites Frühstück. Melina aktivierte die Brotmaschine, kurz darauf verspeisten wir weitere fünf Brötchen und aßen dazu Bananen. Jene kamen aus der Obstplantage.
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