Unsere Fracht bestand aus Hunderten Tiergattungen, die, ähnlich wie jene der Arche Noah in grauer Vorzeit, darauf warteten, eine neue Heimat zu finden. Doch unsere tierischen Begleiter würden erst aufgeweckt, wenn wir zweifelsfrei eine neue Heimat gefunden hatten. Dort sollten sie der erneuten Gefahr des Aussterbens nicht mehr ausgesetzt sein.
Melina und ich waren nicht die einzigen Forscher, die so tief im Universum unterwegs waren. Es waren Hunderte. Ein paar wenige hatten die gleiche Galaxie wie wir als Ziel, würden ein paar Wochen später eintreffen.
Doch uns ging es weniger darum, eine neue Heimat zu finden, denn unsere Reise hatte einen tragischen Hintergrund.
Nachdem die Menschheit im dritten Jahrtausend nach und nach in die Milchstraße vorgedrungen war und diese zum Teil besiedelt hatte, war irgendwann im vierten Jahrtausend etwas Unfassbares geschehen: Wir hatten den biologischen Willen zur Fortpflanzung verloren. Es gab keinen Sexualtrieb mehr. Meine Gefährtin und ich, die seit fast sechzig Jahren unterwegs waren, hatten noch nie Geschlechtsverkehr gehabt. Testosteron und Östrogene funktionierten nicht mehr. Und die Menschheit, die im dritten Jahrtausend mit gut einhundertzwanzig Milliarden Menschen ihren Höhepunkt erreicht hatte, begann zu schrumpfen.
Unsere Vorfahren waren alarmiert, aber etliche Versuche, den Prozess umzukehren, scheiterten. Die künstliche Befruchtung, die den verlorenen Sex ablöste, funktionierte nicht wie erwartet. Neun von zehn erzeugten neuen Menschen überlebten die ersten zehn Jahre nicht. Unsere Wissenschaftler waren verzweifelt. Sollten wir auf diese Weise aussterben?
Wir suchten daher im gesamten Universum nach einer Lösung. Unsere Raumschiffe maßen sechzehn Kilometer. Gemäß der Evolution hatten wir, zumindest für die Säugetiere, eine Paarkonstellation von zwei männlichen sowie fünf weiblichen Exemplaren, die uns begleiteten. Der Rest des Raumschiffes glich einer kleinen Stadt, nur für uns. Wir machten Sport, spielten Bewegungsspiele, die in den letzten Jahrhunderten entwickelt worden waren. Darunter war Galaktisches Tennis, eine Weiterentwicklung des normalen. Man spielte in einer Kugel von einhundert Metern Durchmesser. Der Ball war eine holografische Kugel, welcher mit hoher Geschwindigkeit hin und her geschleudert wurde. Er wurde so schnell, dass man damit theoretisch jemanden verletzten konnte. Daher verwendeten wir ihn ohne physischen Körper.
„Deine Zelldusche ist so weit, Melina.“ Tora, unsere positronische Intelligenz, riss mich mit ihrer Stimme aus meinen Gedanken.
Melina neben mir stöhnte auf.
Schmunzelnd sah ich zu ihr. „Du hast gestern schon verschoben.“
Sie nickte und streckte sich auf dem Sessel aus. „Ich weiß.“ Ihre Nieren und Leber würden eine Zellauffrischung erhalten. In wenigen Monaten waren die Milz und ein Teil des Darms an der Reihe.
„Du kannst dich ihr anschließen, Nathanael.“
Erstaunt sah ich nach oben, auch wenn Tora überall war. Ihr positronisches Netz durchzog nahezu jeden Teil des Schiffes. „Ach so?“
„Deine Lungen sind an der Reihe.“
Jetzt war ich es, der geräuschvoll die Luft ausstieß.
Melina grinste mich an und erhob sich. „Komm, Nale – gemeinsam.“
Ich verließ mit ihr unseren Videopark. Wir überlegten, ob wir die Gleiter nehmen sollten, entschieden uns aber zu laufen. Wir wollten unsere athletische Form behalten. Im Jogging-Modus rannten wir durch die Gänge, durchquerten unseren Garten, den Melina kurz nach dem Start angelegt hatte – mit Dutzenden Pflanzen und Blumen. Sie machte sich dabei sogar die Hände schmutzig, was eigentlich unnötig war, da wir Apparate hatten, die dies erledigten. Melina fühlte sich durch das Berühren der Erde unserer Heimat nah. Ich verstand sie sehr gut. Nicht nur, weil sie unsere Biologin war. Entomologie, Zoologie allgemein, Botanik und Anatomie des Menschen.
Dass sie mich Nale nannte, war eine Abwandlung meines eigentlichen Namens. Anfangs hatte sie mich nach Nathan Nael genannt, inzwischen verwendete sie eben diese Variante. Ich wiederum rief sie Lina.
Wir erreichten den medizinischen Bereich unseres Schiffs und legten uns auf die Liegen, über die die Zellduschen vorgenommen wurden. Für eine Stunde des Tages erneuerten sich unsere Zellen. Uninteressiert verfolgte ich die vier Lichtquellen, die auf meinen Körper einschwenkten und über einen weißen, einen roten, einen grünen und ein blauen Laser Energie auf mich schossen – in meine Lungen.
Wissenschaftler der Erde hatten vor Urzeiten herausgefunden, wie man verhindern konnte, dass Stamm- und Normalzellen einen nicht beabsichtigten Tod starben. Normale Zellen, die nach vierzig bis fünfzig Teilungen mit dem Stoffwechsel aufhörten, wurden durch damals neu eingeführte Zellduschen praktisch wieder auf eins heruntergesetzt. Das war nur ein Teil der Erneuerung.
Unsere Lebenserwartung war durch den Wissenszuwachs der letzten Jahrtausende in die Höhe geschossen. Aufgrund der langen Reise waren Melina und ich inzwischen zweiundneunzig beziehungsweise dreiundneunzig Jahre alt. Gemessen an den antiken Alterungsprozessen der Menschen waren wir Mitte dreißig. Viele Menschen waren anfangs neugierig gewesen, was man mit scheinbarer Langlebigkeit erreichte. Die Verrücktesten von uns hatten ein Alter von über fünfhundert Jahren geschafft. Der Rekord stand sogar bei sechshundertundzehn.
Durch den Zuwachs des Wissens über den menschlichen Körper im dritten Jahrtausend hatten die Wissenschaftler begonnen, die Junk-DNS, die jeder in sich trug, nutzbar zu machen. In einem ersten Versuch hatte man einem mit Malaria infizierten Menschen einen kleinen Teil seiner DNS umprogrammiert. Als Folge war Immunität gegenüber dem Virus entstanden. Die Industrie hatte Insiderberichten zufolge vor Wut geschäumt, weil sich nun das Gegenmittel immer schlechter verkaufte.
Der Erfolg der Umprogrammierung zog mit den Jahrzehnten weitere nach sich. Bei einem Krebspatienten wurde ebenfalls die Müll-DNA reprogrammiert. Der Patient wurde immun gegen das größte Übel der Menschheit. Und erneut ging mit den Jahren ein weiterer Industriezweig pleite. Krebsmedikamente wurden wertlos.
Die Folge war eine Bevölkerungsexplosion. Etliche Menschen wanderten auf den inzwischen terraformierten Mars aus. Erste Expeditionen verließen das Sonnensystem in Richtung Alpha Centauri und weiteren Sternen.
Und wir, Melina und ich, waren nun gut elf Milliarden Lichtjahre von unserer Heimat entfernt. Da wir Forscher waren, hatten wir uns dazu entschieden. Den Sexualtrieb mochten wir verloren haben, aber unsere Neugier nach dem noch Unbekannten war geblieben. Und unsere Hoffnung, irgendwo da draußen eine Form von Sexualheilung zu finden, an die wir noch nicht gedacht hatten.
Meine Gefährtin und ich arbeiteten zwar nicht in der direkten Wissenschaft – das taten Kollegen mit einer besonderen Auslastung ihres Gehirns von fünfundachtzig Prozent –, doch selbst wir Forscher nutzten circa sechzig bis fünfundsechzig Prozent unserer Gehirne. Der Rest unserer Mitmenschen, zu denen auch Künstler zählten, arbeiteten gut mit der Hälfte.
Meine Liege klappte nach oben, ich entstieg ihr. Auch Melina war fertig.
„Melina, Nathanael – es wird Zeit für das psychologische Programm.“
Erstaunt sah ich Melina an. „Kannst du das spezifizieren, Tora?“
„Ihr habt euch vor exakt acht Jahren das letzte Mal gestritten.“
Ich stöhnte auf.
Melina schüttelte den Kopf. „Tora, das war kein Streit.“
„Du kannst unmöglich wollen, dass wir wie unsere Vorfahren die Stimme erheben, uns anbrüllen oder gar handgreiflich werden.“
Videos erschienen um uns herum und zeigten historische Streitsituationen. In einem Fall kam ein Mann von der Arbeit nach Hause und regte sich auf, dass der Rasen vor dem Haus nicht gemäht war. Der Sohn, der offenbar dieser Arbeit zugeteilt war, sagte, er hätte keine Zeit gehabt.
Читать дальше