Aber wo war Seds Flasche geblieben? Ticke wurde bewusst, dass diese Frage mit einer ganzen Menge anderer, mehr oder weniger schwieriger Fragen verbunden war, etwa: Was hast du heute Morgen nahe der Erlenböschung gemacht, als du mit Üx zusammengetroffen bist? Wieso hast du den Baum ohne Flasche verlassen? Oder die schwierigste Frage von allen: Warum trugst du Szonnas Ball bei dir? All das waren berechtigte Fragen, aber sie spürte, dass Sed sie ihr nicht beantworten wollte. Sie fühlte sich sehr ungemütlich, denn ohne dass sie diese Fragen wirklich gestellt hatte, hingen sie da in der Luft zwischen ihnen und würden auch nicht einfach verschwinden, sondern weiter da hängen, bis sie sie gestellt und er sie beantwortete hatte, das wusste sie, obwohl sie jetzt einfach begann den Rucksack weiter auszupacken und die einzelnen Dinge zwischen ihnen beiden auf dem Boden auszubreiten.
Sie reichte ihm etwas vom Hartgebackenen der Morre, aß selbst etwas, auch ein bisschen von allem anderen aus ihren Vorräten, aber seltsam – trotz all der Anstrengungen des Tages hatte keiner von ihnen großen Hunger.
Doch dann fiel Ticke ein, dass es auch noch etwas anderes gab, über das sie nachdenken musste. Sie stand auf und ging ein paar Schritte weg vom schweigend vor sich hin kauenden Sed. Über das Band fühlte sie nach der Spinne, obwohl es nicht wirklich nötig war, denn jetzt konnte sie Üx auch mit bloßem Auge erkennen.
Etwas entfernt standen einige Sumpfgräser und die Spinne hatte die Zeit genutzt, um ein Netz zu bauen. Zwei Fliegen, die ihr unvorsichtigerweise in die Falle gegangen waren, hingen bereits eingewickelt darin. Üx ging es gut, das konnte Ticke spüren. Etwas schüchtern zog sie an der unsichtbaren Verbindung. Die Aufmerksamkeit der Spinne wandte sich ihr so ruckartig zu, dass sie beinahe erschrocken zurückgewichen wäre. Sie versuchte, die Gefühle der Spinne zu entziffern. Nun, da sie satt war, war sie nicht mehr so sehr voll Zorn und Empörung.
„Hallo, Üx!“, sagte sie. Die große Spinne reagierte nicht, aber Ticke spürte ihre wachsam lauernde Aufmerksamkeit. Sie fühlte, wie sich die kleinen Härchen auf ihren Armen aufrichteten. All die Aufregungen bei der Überquerung des Wassergrabens hatten sie vergessen lassen, was für ein unheimliches und gefährliches Tier die Spinne noch immer war. Sie wusste nicht mehr, was sie eigentlich hatte sagen wollen, vielleicht: Danke, dass du mich vorhin vor dem Ertrinken gerettet hast, oder etwas in der Art, aber stattdessen drehte sie sich um und ging zurück zu Sed.
Er beachtete sie noch immer nicht. Ticke seufzte schwer. Am liebsten wäre sie in Tränen ausgebrochen, und das hätte sie auch schon längst getan, wäre sie noch daheim bei den Schmetterlingsleuten gewesen. Aber seit sie auf dieser Fahrt waren, war alles anders geworden.
Sed saß hier, betrübt und irgendwie ängstlich und es war an ihr zu sagen, wie es weitergehen sollte. Also durfte sie jetzt nicht weinen. Mit einem Blick auf die sinkende Sonne sagte sie: „Wir bleiben heute Nacht am besten hier.“
Er nickte stumm.
Früh, bevor es richtig hell wurde, zogen sie weiter. Diesmal gingen Ticke und Sed zu Fuß. So wurde ihnen wärmer und der Boden war immer noch sehr weich; es hätte die Spinne große Anstrengung gekostet, sie beide weiter zu tragen, und keiner der drei war böse über die neue Lösung.
Manchmal war Üx ein gutes Stück vor ihnen, manchmal fiel sie zurück. Vor allem Sed achtete darauf, immer einen gewissen Abstand zwischen sich und der Spinne zu halten.
Es war ungemütlich klamm und noch immer sprachen sie kaum ein Wort. Bei jedem Schritt gurgelte der sumpfige Boden unter ihnen. Sie zogen durch einen Wald dürrer Halme, die im bleichen Morgenlicht grau und unheimlich wirkten. Sie sahen kein lebendes Wesen. Einmal meinte Ticke einen kurzen Blick auf etwas Schwarzes erhascht zu haben, das aber ebenso schnell wieder verschwunden war. Schließlich ging die Sonne für einen kurzen Moment auf, doch gleich darauf verschwand sie in dichten Nebelschwaden, die wie aus dem Nichts plötzlich aufwallten. Jetzt musste man seine Augen anstrengen, um noch die Umrisse vor sich zu erkennen. Sie konnten die Spinne nur noch erahnen, schwarz und unförmig wirkte sie.
Gegen Mittag riss der Nebel auf und gab den Blick auf einen wolkenverhangenen Himmel frei. Sie hielten an und aßen von den Vorräten der Morre. Es war nicht sehr gemütlich und bald zogen sie weiter.
Fünf Tage und Nächte vergingen auf diese Weise. Die Sümpfe schienen kein Ende zu nehmen. Wenn die Sicht klar war, konnten sie die winzigen Bäume am Horizont sehen, aber sie wollten nicht näher kommen. Ihre Essenvorräte neigten sich dem Ende zu, aber wenigstens hatten sie genügend Wasser, das die Feuchtigkeit auf den Gräsern hinterließ. Sie sprachen wenig, denn die Sümpfe bedrückten sie beide. Aber es schien Ticke manchmal, als würde Sed von Stunde zu Stunde trauriger. Sie vermied es, ihn mit Fragen zu quälen, denn auf die kleinsten Andeutungen reagierte er gereizt, aber er zog sich mehr und mehr in sich selbst zurück, ohne dass sie wusste, was sie dagegen tun sollte.
Üx dagegen schien es gut zu gehen. Weder das Grau ihrer Umgebung noch der Hunger konnten ihr etwas anhaben, denn Spinnen zehren lange davon, wenn sie sich einmal richtig satt gefressen haben. Allerdings wurde es immer kühler und die Spinne damit langsamer. Auch Ticke und Sed froren die ganze Zeit. Sie hatten mehrmals versucht, wenigstens abends ein Feuer zu entfachen, aber alles hier war zu feucht, um zu brennen, und so mussten sie es notgedrungen wieder aufgeben.
Am Nachmittag des fünften Tages schien es ihnen, als wäre ihr Ziel, die Schemen der Bäume, dort, wo der Rand der Sümpfe sein sollte, endlich näher gerückt. Sie schöpften etwas Hoffnung und Sed brach sogar ab und zu sein Schweigen. Aber als sie die Bäume am Mittag des sechsten Tages schließlich erreicht hatten, sahen sie, dass sich dahinter weiter das Sumpfland ausbreitete und die Bäume nur eine Insel irgendwo inmitten des flachen Moores waren.
Sie zogen weiter. Trotz der Enttäuschung, dass die Bäume nicht das Ende des Sumpfes darstellten, wollte doch keiner von ihnen wirklich umkehren. Obwohl Üx, hätte sie die freie Wahl gehabt, sicher nichts dagegen gehabt hätte zu bleiben. Aber als der Nebel über den Sümpfen aufriss, glaubte Ticke, dass sie hinten am Horizont etwas erkennen konnte.
Der nächste Tag war einer jener goldenen Herbsttage, an denen die kürzer gewordenen Sonnenstrahlen noch einmal für einige Stunden den Sommer zurückholen, und doch war alles anders, zu heiß in der Sonne und zu kühl im Schatten, zu hoch und zu blau der Himmel, zu herrlich war alles, ein kurzer unwirklicher Stillstand vor dem kommenden Ende.
Gegen Mittag war die Hitze so stark, dass keiner von ihnen mehr weiterkonnte. Schweißperlen tropften von Seds Stirn und Tickes Gesicht glühte vor Mittagshitze und Sonnenbrand. Üx, die in der Wärme schneller und geschickter war, hatte den ganzen Morgen ein erstaunliches Tempo vorgelegt und die beiden anderen mitgezogen, aber jetzt war auch die Spinne ermattet. Sie fanden einen trockenen Grashügel, auf dem auch einige Blätter wuchsen. Ticke zog sich sofort in den Schatten zurück und trank gierig aus ihrer Flasche. Sed tat es ihr nach.
Während des ersten Teils ihrer Reise hatten sie nur wenige lebende Wesen gesehen, aber nun schienen die Sümpfe in der Wärme aufzuleben. Es wimmelte, brummte und summte überall. Mücken schossen im Zickzack durch die Luft, Käfer, Ameisen und Grashüpfer liefen höchst beschäftigt hin und her. Dicke Brummer flogen vorbei, Hummeln, aber auch viele Bienen und Wespen. Eine Schwebfliege stand lange bewegungslos vor ihnen in der Luft, während ihre Flügel so schnell vibrierten, dass die Augen sie nicht erfassen konnten. Sed und Ticke machten sich gegenseitig auf Schmetterlinge und Falter aufmerksam, viele von ihnen hatten sie noch nie zuvor gesehen, manche bunt gemustert, andere nur so groß wie einer ihrer Arme, weiß und fröhlich.
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