„Du zitterst ja“, sagte Ticke erstaunt und Sed bemerkte erst jetzt, dass sein ganzer Körper bebte. Schnell löste er sich von ihr.
„Die da wollte mich fressen!“ Anklagend deutete er auf die Spinne.
Ticke sah zu Üx hinüber. Sie sagte kein Wort, aber Sed hoffte, dass Ticke ihr durch das Band schwer den Marsch blies. „Du Ungeheuer!“, fauchte er die Spinne an, aber deren viele Augen schienen ihm betont in alle Richtungen außer in seine zu schauen.
Wie drei, anstelle einer einzigen nassen Spinne, krochen sie die matschige Böschung ganz nach oben, wo sie sich sofort zu Boden fallen ließen. Alle drei waren sie nach ihrem Abenteuer vollkommen erschöpft, keiner von ihnen konnte noch einen klaren Gedanken fassen.
Es war bereits später Nachmittag, aber die Sonne schien noch warm und freundlich auf die drei herunter, die hier mitten im Sumpf lagen und schneller eingeschlafen waren, als es an einem solchen Ort ratsam erschien.
Sed träumte. Er wanderte herum und suchte. Um ihn waren Mauern, sehr viele und sehr alte Mauern, verfallen, überwachsen und versteckt mitten im Schilf. Er wusste, dass er schon sehr lange suchte und wenn er das, was er suchte, nicht bald fand, würde es zu spät sein. All das wusste er mit dieser Sicherheit, mit der man Dinge in Geschichten und Träumen einfach weiß.
Auch Ticke träumte. Sie träumte, sie wäre wieder ein kleines Golk und saß auf dem Rücken ihrer Mutter, die Beine um deren Hüfte geschlungen. Ari war auch dabei, sie schrie, weil sie mit einem Bogen schießen wollte, aber nicht durfte. Sie schrie und schrie und ihr Schrei gellte Ticke so in den Ohren, dass sie sie sich zuhalten musste, aber es nützte nichts, das Schreien wurde immer lauter und Ticke konnte es nicht länger aushalten, sie konnte es nicht länger ertragen …
… sie riss die Augen auf. Anscheinend war die einzige Möglichkeit, dem gellenden Schrei zu entkommen, einfach aufzuwachen. Über ihr wölbte sich noch immer der Himmel, aber er war nun nicht mehr von abgründigem Nachmittagsblau, sondern sanfter, abendlicher. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wo sie war.
Nach und nach kam alles wieder, langsam, wie um ihr nicht zu viel auf einmal zuzumuten. Sie setzte sich auf. Sed lag neben ihr, er schlief, aber sein Gesicht sah verkniffen aus, als sei es anstrengend zu schlafen. Die Spinne war nirgends zu entdecken, doch Ticke konnte ihre Nähe spüren. Ihre satte und zufriedene Nähe. Das Jagdglück war der Spinne hold gewesen. Vielleicht würde sie Sed erst einmal in Ruhe lassen. Auch Ticke hatte Hunger.
Die Morre hatte ihr Trockenfleisch, Hartgebackenes und getrocknete Beeren eingepackt, aber das alles war in ihrem Rucksack gewesen und der war bei der Überquerung des Grabens verloren gegangen. Und mit ihm all das andere Notwendige, von dem Sedna gesagt hatte, dass man es auf Reisen unbedingt brauchte. Nichts von allem hatte Ticke überhaupt gewusst, was oder wozu es gut war, aber jetzt war es ohnehin verloren.
Sie erhob sich und stand auf wackeligen Beinen. Immerhin hatte die Sonne sie getrocknet. Doch sie hatte sie auch ausgedörrt und nun quälte sie Durst. Wasser gab es hier überall, aber das Sumpfwasser durfte man nicht trinken, das wusste jeder. Von Sumpfwasser bekam man Fieber und böse Träume. Sie dachte kurz an ihren Traum mit der schreienden Ari zurück. „Ein bisschen Sumpfwasser habe ich wohl schon geschluckt heute“, dachte sie und versuchte zu grinsen, aber es gelang ihr nicht, denn nachdem sie einmal darauf aufmerksam geworden war, quälte sie der Durst zu sehr.
Sie ging zum Rand des Grabens und blickte hinunter aufs Wasser. Für Sumpfwasser schien es ihr sehr klar, vielleicht sogar trinkbar. Sollte sie das Risiko eingehen? Vielleicht wäre es besser, zu warten, was Sed sagte, möglicherweise hatte er eine Idee.
Doch während sie noch aufs Wasser starrte und überlegte, fiel ihr plötzlich etwas Großes auf, das ein gutes Stück weit weg am selben Ufer lag. Das Ding bewegte sich nicht, hatte aber etwas Vertrautes an sich. Neugierig ging sie hinunter ans Wasser. Der Frosch kam ihr wieder in den Sinn, aber weit und breit war nichts Beunruhigendes zu entdecken. Sie näherte sich dem Ding und stieß einen Jubelschrei aus: kein Zweifel, ihr Rucksack. Er war an Land gespült worden. Sicher war alles nass, aber vielleicht ließ sich das eine oder andere doch noch benutzen.
Ticke wollte ihren kostbaren Fund schon zurück zu Sed tragen, da sah sie noch etwas, das anscheinend an Land gespült worden war. Es glänzte im Schlamm, in den es so tief eingesunken war, dass Ticke es beinahe übersehen hätte. Sie griff danach und zog das schmutzige Ding heraus. Es war nicht groß, aber es lag schwer und glatt in ihrer Hand: eine Kugel, massiv und wunderschön. Eine Kugel ganz aus Gold.
Ticke kannte sie. Jeder auf dem Baum kannte sie. Diese Kugel gehörte Szonna. Szonna war die Tochter des ersten Raupenhüters und ihr waren wahrscheinlich mehr Wintergedichte gewidmet worden, als der Baum im Sommer Blätter trug, denn sie war wunderschön. Allerdings war sie auch genauso eingebildet. Ari hasste sie mitsamt ihrer goldenen Kugel.
Ticke war starr vor Staunen. Sie konnte sich natürlich irren, vielleicht gab es ja noch so ein goldenes Ding,
Aber dann fiel ihr das ein, was in Seds Hand aufgeblitzt war, vorhin, als er sie vor dem Grünen gerettet hatte.
Als Ticke die Böschung heraufkam, langsam, den nassen Rucksack über der Schulter und den goldenen Ball in einer Hand, fand sie Sed auf dem Boden sitzend. Er sah verwirrt aus, suchend, denn der Traum von vorhin klang noch immer in ihm nach, aber davon wusste Ticke natürlich nichts.
„Hej“, sagte sie, „guck, was angespült wurde.“ Und sie hob den Rucksack hoch, doch er beachtete ihn gar nicht. Er starrte auf ihre andere Hand; die Hand mit dem goldenen Ball.
„Ja, das auch“, sagte sie leiser.
Sein Blick war abwehrend, sie konnte sehen, dass er nicht darüber sprechen wollte, wie und warum Szonnas goldene Kugel hier in die Sümpfe gelangt war. Unschlüssig, ob sie ihn trotzdem danach fragen oder einfach darüber hinweggehen sollte, kam Ticke näher. Er wich ihren Blicken aus und betrachtete seine Zehen.
Sie stellte den Rucksack vor ihn auf den Boden, kniete sich daneben und begann ihn auszupacken. Erstaunt stellte sie fest, dass fast kein Wasser eingedrungen war, ihre Sachen waren nur etwas feucht, ansonsten aber unversehrt. Sie zog die lederne Trinkflasche heraus. Bei ihrem Anblick übermannte sie der Durst heftig, sie trank ein paar tiefe Schlucke, reichte sie dann aber an Sed weiter, der sicher ebenso durstig war wie sie.
Sed, der noch immer seine Füße anstarrte, hob den Kopf, nahm die Flasche und trank auch. Aber nach zwei Schlucken setzte er die Flasche wieder ab. „Wir dürfen nicht so viel trinken, das ist alles, was wir haben, bis der Tau fällt.“
Ticke nickte langsam. „Wo ist deine Flasche?“, fragte sie.
Sofort kehrte sein Blick zurück zu seinen Füßen. Sie war erstaunt, sie hatte natürlich gewusst, dass das eine sinnlose Frage war, sie konnte ja sehen, dass er keine Flasche hatte, schon als sie heute früh aufgebrochen waren, hatte sie es gesehen, hatte es da aber noch nicht wirklich wahrgenommen, zu viel anderes war ihr durch den Kopf gegangen. Aber natürlich hatte jeder, der den Baum verließ, eine Sache mit Sicherheit dabei, seine lederne Flasche.
Sie erinnerte sich daran, ihre am Gürtel getragen zu haben, wenn auch nur noch zwei Fingerbreit Wasser darin gewesen war, als sie irgendwann in der fernen Vergangenheit – so schien es ihr; auch wenn es nur gestern Morgen gewesen war – mit Sed aufgebrochen war, um die Morre zu besuchen. Und Sed hatte damals seine ebenfalls bei sich getragen, auch daran erinnerte sie sich jetzt ganz deutlich. Ihre Flasche hatte die Morre gefüllt, als sie ihr den Rucksack packte, während Ticke schlief, müde vom Knüpfen des unheimlichen Bandes.
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