Doch der Zufall kam ihnen zur Hilfe. Ein leichter Wind war aufgekommen, er wehte Herbstlaub vor sich her und einige bereits vergilbte Blätter landeten vor ihnen auf dem Wasser und trieben nun unbemannt und ausreichend groß auf dem Graben dahin. Ticke überlegte nicht lange, sondern befahl der Spinne mit ihren langen Beinen ein Blatt näher heranzuziehen.
„Ein Boot!“, staunte Sed.
Und wirklich, da sie nicht mehr wogen als zwei Ameisen, wurde das Blatt von ihrem Gewicht kaum nach unten gedrückt, als sie ihre Rucksäcke daraufhoben und sich dann selbst hinaufzogen. Die gerippte Oberfläche war trocken und sie saßen bequem.
„Viel gemütlicher als der stinkige Rücken von diesem Ekel!“ Sed nickte mit dem Kinn zu Üx hinüber.
Doch als die Spinne versuchte, ihren massigen Leib auf das Blatt zu ziehen, wurde es am Rand nach unten gedrückt und das Wasser des Grabens lief hinein.
„Zum Drummel, wir sinken!“ Ticke, die mit Wasser nichts anfangen konnte, wurde ziemlich blass und versuchte, den nassen Stellen auf ihrem Boot auszuweichen, was das Schwanken noch verstärkte. Doch schließlich gelang es der Spinne, sich ganz auf das Blatt zu ziehen, und es erwies sich tatsächlich als stabil genug, um ihnen allen als Boot zu dienen.
Zuerst drehte sich ihr Blattboot nur um die eigene Achse und es schien schon, als sei das keine Idee gewesen, die sie weiterbrachte, aber dann erfasst die Brise das Blatt und es nahm rasch Fahrt auf. Der Wind blies um ihre Ohren, zauste Seds Locken und ließ Tickes lange Zöpfe flattern. Sie genossen es, wie schnell und leicht ihr Blattboot auf der Wasseroberfläche dahintrieb. Hin und wieder drehte es sich, kam dann aber immer wieder auf Kurs. Das Wasser, sehr klar, wenn nichts den Morast aufwühlte, kräuselte sich leicht im auffrischenden Wind. Sie wurden den Graben entlanggetrieben, das andere Ufer war bereits sehr nah, aber sie konnten nicht landen.
„Wir müssten das Ding irgendwie lenken.“ Sed blickte sich besorgt um. Dann hellte sich seine Miene auf, als er ein Blatt mit einem dünnen Zweiglein daran so nah an ihnen vorbeitreiben sah, dass er es zu fassen kriegte. Er zog es heran, holte sein Messer aus der Tasche, schnitt den Zweig ab. „Mal sehen, ob ich das hier steuern kann“, murmelte er mehr zu sich selbst als zu Ticke.
Jetzt rückte das andere Ufer näher und sie atmeten innerlich auf. Sed stieß Ticke mit dem Ellenbogen in die Seite. „Das klappt ja wie’s Eierlegen.“
Ticke wollte schon etwas Zustimmendes erwidern, doch da fiel ihr Blick auf zwei seltsame Buckel, die weiter hinten aus dem Wasser ragten und rasch näher kamen. Eine kleinere, dritte Erhebung schien vor ihnen zu schwimmen, doch gerade als Ticke Sed darauf aufmerksam machen wollte, tauchten die Buckel unter.
Ein großer dunkler Schatten schoss unter Wasser auf sie zu. Ticke packte Seds Arm, doch in eben diesem Moment tauchte etwas Riesenhaftes mit einem lauten Platschen aus dem Wasser; etwas schoss direkt auf Üx zu. Es war lang und bräunlich. Das Ding verfehlte die Spinne um Haaresbreite, doch die war so erschrocken, dass sie einen Schritt zurückwich und über die Blattkante ins Wasser stürzte. Sie versuchte sich zwar sofort wieder nach oben zu ziehen, aber mit ihren wasserschweren Beinen rutschte sie immer wieder ab und brachte dabei ihr Blatt gefährlich aus dem Gleichgewicht.
Und plötzlich tauchten auch die seltsamen Kugeln wieder auf, sie waren nun viel näher und schienen direkt auf die wehrlose Spinne zuzuhalten. Jetzt erkannte Ticke, dass es Augen waren, große schwarze Pupillen mit goldfarbenem Hintergrund. Sie presste sich die Faust in den Mund um nicht zu schreien.
„Sch“, zischte Sed, beinahe tonlos, „nicht bewegen, ’n Grüner, ’n Frosch, das lange braune Ding war seine Zunge, die ist am gefährlichsten!“ Sehr langsam zog Sed etwas aus seiner Tasche, das Ding leuchtete kurz in seiner Hand auf, als er vollkommen ruhig ausholte, zielte, es zischte durch die Luft und traf mit einem klatschenden Ton genau zwischen die unheimlichen gewölbten Augen. Augenblicklich waren sie verschwunden.
Doch ihnen blieb keine Zeit aufzuatmen. Ob nun ihr Angreifer Wellen verursacht hatte oder ob es an Üx’ letztem verzweifelten Versuch lag, sich wieder aufs Blatt zu ziehen, jedenfalls war das der Moment, in dem ihr Blatt vollkommen überflutet wurde und endgültig sank.
Ticke, die nicht schwimmen konnte, ging sofort unter, kam dann wild um sich schlagend wieder an die Oberfläche, verzweifelt schnappte sie nach Luft, um sofort wieder zu versinken.
Sed konnte zwar schwimmen, aber er konnte es nicht sehr gut. Er versuchte, Ticke zu packen und gleichzeitig nicht an den Frosch zu denken, dem sie jetzt hilflos ausgeliefert waren, während die Spinne, bemüht sich ebenfalls über Wasser zu halten, mit ihren riesigen Beinen das Wasser um sie herum aufwühlte.
Sed packte einen Arm Tickes und hielt fest, Wasser lief ihm in Mund und Nase und er war sich sicher, dass sie ertrinken würden; blind tastete er nach Halt, nach dem Blatt, nach irgendetwas. Seine andere Hand erwischte ebenfalls etwas, es war ein Spinnenbein. Die Spinne fühlte, wie sie durch das Gewicht der beiden Golke in die Tiefe gezogen wurde und versuchte sie abzuschütteln. Dabei traf sie Ticke mit einem ihrer anderen Beine hart am Kopf. Unwillkürlich ließ Sed seine Freundin los und voll Entsetzen sah er, wie sie in der Tiefe verschwand.
Doch im selben Augenblick hörten die wilden Bewegungen der Spinnenbeine auf, stattdessen versank Üx ebenfalls, nur um einen Augenblick später verzweifelt um sich schlagend wieder aufzutauchen, die noch immer reglose Ticke mit den Beinen vor sich her an die Wasseroberfläche schiebend und stoßend.
Plötzlich sah Sed Tickes vom Wasser geschwärzten Lederschuh vor sich. Er packte zu und bekam den Fuß zu fassen. Und die Spinne – später fiel ihm das nicht leicht zu glauben – die Spinne half ihm, trotz ihrer eigenen Nöte, indem sie ihre Reiterin von unten hochschob.
Dennoch wäre es sicher schlecht für die drei Reisegefährten ausgegangen, wären sie bei ihrem Kampf gegen das Ertrinken nicht unversehens näher an das Ufer herangekommen. Hier war das Wasser viel flacher, und zu seinem Erstaunen spürte Sed plötzlich Grund unter seinen Füßen. Er hielt Ticke so fest er konnte und es gelang ihm, sie ins flachere Wasser und schließlich an Land zu ziehen. Sie war bleich und sah aus wie tot.
Er schüttelte sie. „Atme, Ticke, bitte, atme!“ Doch Ticke bewegte sich kein bisschen. Er versuchte zu erkennen, ob sich ihr Brustkorb hob und senkte, aber in seiner Aufregung war das unmöglich. Er stieß alle Flüche aus, die er kannte, die übelsten und die verbotensten. Sie konnte doch nicht tot sein! So schnell starb man doch nicht! Tausend Sumpfmorren, das ging doch nicht! Er spürte, wie ihm die Tränen kamen und verzweifelt sah er sich nach möglicher Hilfe um.
Sein Blick fiel auf die große Spinne, die sich ebenfalls ans Ufer gerettet hatte, und ihm wurde klar, dass sie ihn schon die ganze Zeit über mit ihren acht Augen fixierte. Sie hatte Ticke doch geholfen, vielleicht konnte sie noch mehr tun. Hoffnung keimte in ihm auf, als sie ihre langen Beine klicken ließ.
Doch da griff die Kreuzspinne so plötzlich an, dass er nicht einmal fluchen konnte. Sie packte ihn mit ihren vorderen Beinen und riss ihn hoch. Instinktiv wollte er sich festhalten, seine Hand krallte sich an das Einzige in Reichweite, einen von Tickes nassen Zöpfen. Dann sah er die giftigen Klauen der Spinne über sich und Sed wurde schlagartig klar, dass es jetzt vorbei war mit Sed Raupenhüter.
„Schon“, ging ihm noch durch den Kopf, aber da ließ die Spinne ihn ebenso plötzlich fallen wie sie ihn gepackt hatte. Er landete auf dem Boden.
„Lasst das doch!“, hörte er eine müde Stimme hinter sich.
Tickes Stimme war das. Sie saß da und rieb sich die Stirn. Er war so erleichtert, sie am Leben zu sehen, dass er sie umarmte.
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