Aber die alte Morre blieb verschwunden und Ticke spürte, wie ihr die Ausmaße des Abenteuers, auf das sie sich da eingelassen hatte, allmählich die Luft abschnürten. Sie hatte den Drang, in Tränen auszubrechen, ihre Arme um ihre Schultern zu schlingen und zu weinen, bis Son auftauchte und sie rettete. Probeweise schluchzte sie auf, meistens der Beginn eines Dammbruches, aber zu ihrem Erstaunen wollte es nicht so recht klappen. Auch ein zweiter Schluchzer klang nicht sehr überzeugend.
Ticke wunderte sich. Aber irgendwo in ihr war immer noch das Gefühl des gestrigen Abends, das Gefühl, dass sie Ari suchen musste. Dass sie nicht länger zu Hause auf ihrem gemütlichen Lager um ihre Schwester weinen konnte. Sie würde das hier durchstehen müssen, da half auch kein Schluchzen. Und sollte Son wirklich auftauchen, um sie heim zu holen, dann musste sie ihm sagen, dass sie nicht mitkommen konnte.
Sie spürte diese Tatsache in sich wie einen kleinen festen Punkt, klein, aber unzerstörbar, einen Punkt, auf den sie sich verlassen konnte, und trotz der klammen Morgenkälte zitterte sie nicht länger. Sie machte einige Schritte auf die Erlenböschung zu, richtete ihre Gedanken auf die Spinne, formte ein inneres Bild von ihr, ihren hohen geknickten Beinen, versuchte sich ihren muffigen Gestank in Erinnerung zu rufen. Sie wartete, aber nichts geschah.
Vielleicht musste sie laut rufen: „Hej, Spinne! Komm her! Komm her zu mir!“ Sie wartete wieder, aber es blieb alles ruhig. Sie tat ein paar Schritte und tauchte in den Schatten der Erlen ein. Hier war sie gestern gestanden. Sie sah das riesige Netz vor sich, aber die Spinne war nirgends zu sehen.
Sie rief noch mal. Natürlich hatte sie nur wenig Lust, der Spinne wieder zu begegnen, aber ohne sie konnte sie die Reise nicht beginnen und sie wollte es endlich hinter sich bringen, bevor sie wieder anfing sich zu ängstigen. „Spinne!“, erstaunt hörte sie sich selbst ziemlich laut brüllen, „Spinne, komm sofort!“ Sie erinnerte sich an die komischen Klicklaute, die die Spinne bei ihren vorigen Begegnungen von sich gegeben hatte, und schnalzte mit der Zunge. Es geschah nichts weiter. Sie würde wohl suchen müssen. Sie seufzte.
Der Erlenhain war nicht besonders groß, aber was eine Suche schwierig machte, war der Morast, der den Boden bedeckte. Feuchte Erde und Laub vom letzen Herbst bildeten eine zähe, weiche Schicht. Leicht, wie Ticke war, sank sie nicht tief ein, trotzdem war es mühsam, vorwärts zu kommen. Äste, die vom Wind zu Boden geweht worden waren, versperrten ihr den Weg und immer wieder war sie gezwungen, von ihrem ursprünglichen Weg abzuweichen.
Sie traf einige Waldameisen, noch träge von der morgendlichen Kühle, aber von beträchtlicher Größe. Ameisen stellten keine Gefahr dar, solange man sie in Ruhe ließ und den Eindruck erweckte, dass man noch am Leben war, aber sie hielt sich doch lieber von ihren Straßen fern. Eine braune dicke Nacktschnecke frühstückte faulige Blätter. Von der Spinne keine Spur. Vielleicht hatte sie sich davongemacht. War in der Nacht noch so weit fort gegangen wie möglich, um Ticke und dem Band auszuweichen.
Und doch sagte ihr etwas, dass die Spinne noch in der Nähe war. Nicht in allernächster Nähe vielleicht, aber sie konnte sie spüren. Ticke war stehen geblieben. Die Spinne konnte überall sein und wenn sie nicht gefunden werden wollte, würde es Ticke schwerfallen, dagegen anzukommen. Jedenfalls solange sie nur mit den Augen suchte. „Du musst das Band benutzen!“, dachte sie. Unschlüssig sah sie sich um, aber der Erlenhain verriet ihr so wenig wie vorher. So setzte sie sich auf einen nicht ganz so feucht erscheinenden Zweig.
Sie schloss die Augen, um noch einmal im Geist nach dem Band zwischen ihr und ihrem ungeheuerlichen Reittier zu tasten. Das Band war da irgendwo in ihr, aber es kostete sie große Anstrengung, es zu spüren. Eigentlich wollte sie es gar nicht spüren. Resigniert öffnete sie die Augen wieder. Es lag sicher daran, dass sie das Band einfach nicht wollte. Genauso wenig wie die Spinne es wollte. Sie wollte einfach nichts mit diesem bösen achtbeinigen Wesen zu tun haben und sie fürchtete sich noch immer schrecklich vor ihr. Das war keine gute Voraussetzung. „Aber das hilft gar nichts, Ticke“, mahnte sie sich selbst, „du musst es machen.“
Erneut schloss sie die Augen. Sie musste sie fest zusammenkneifen, damit sie sich nicht sofort wieder öffneten. Wieder suchte sie nach einer Spur in ihrem Inneren, versuchte sich das Band vorzustellen. Durchsichtig, silbrig, zäh, wie der Faden einer Kreuzspinne, sie sah es vor sich, sie folgte ihm, spürte, wie sie näher kam, gleich würde sie die Spinne erreicht haben … Da! Erschrocken riss Ticke die Augen auf. Sie hatte die Spinne gefunden und im selben Moment ertönte ein wütender Schrei. Er kam aus der Richtung, wo auch die Spinne war.
Sie sprang auf und rannte los. Zwei weitere Schreie folgten. Aber sie wusste jetzt auch so, wo ihr Ziel war. Sie beschleunigte, sprang über einen dicken Ast, der ihr den Weg versperrte. Ein weiterer Schrei brach plötzlich ab. Ticke hätte nicht gedacht, dass sie noch schneller werden konnte. Wie ein Pfeil flog sie aus dem Schatten der Erlen hervor auf die Wiese hinaus. Es war Glück, dass die Spinne sich nicht auf der Sumpfseite der Erlenböschung befand, hier wäre Ticke niemals so schnell vorangekommen, aber auf dem festen Wiesenboden musste sie nur wenig Acht geben. So wenig, dass sie um ein Haar in die Spinne hineingerannt wäre.
Auch die Spinne hatte nicht aufgepasst, denn sie war in einen heftigen Kampf verwickelt, der sich gerade sehr zur ihren Gunsten gewendet hatte. Ihr Gegner lag vor ihr auf dem Boden, und sie hatte ihn gerade mit ihren beiden giftigen vorderen Klauen lahmgelegt, als diese verflixte zweibeinige, flügellose Mücke angesaust kam und dabei so laut brüllte.
„Aufhören!“, kreischte Ticke, die hässliche Mücke, „sofort aufhören, lass ihn in Ruhe, weg, hau ab, du … du …“ Dann ging ihr wohl die Puste aus, aber es hatte bereits genügt. Machtlos gegenüber diesen Befehlen, war die Spinne ein paar Schritte zurückgewichen, allerdings nicht ohne dabei wüste Beschimpfungen gegenüber Zweibeinern jeder Art und Größe auszustoßen. Ticke rang nach Luft. Vor ihr auf dem Boden, mit dem Gesicht nach unten, lag eine vertraute Gestalt in einem hellen Hemd aus feinster Seide, gewebt von einer der besten Weberinnen der Schmetterlingsleute aus dem Garn der Seidenraupen. Sie kniete sich daneben und drehte ihn um. Es war Sed.
Seine Augen waren geschlossen, er war bleich und bewegte sich kein bisschen. Wütend zischte sie die Spinne an: „Hast du ihn getötet? Was hast du mit ihm gemacht?!“
Die Spinne klickte nur. Es klang beleidigt. Neben Sed lag ein langer Speer, mit dem er sich wohl verteidigt hatte. Am liebsten hätte Ticke diesen gepackt und ihrerseits die Spinne angegriffen. Was hatte Sed hier so früh gemacht?
„Sed!“, sagte sie laut. „Sed! Wach auf, Sed!“ Sie packte ihn an der Schulter und rüttelte daran, aber nichts geschah. „Wenn er tot ist …“ Sie rüttelte fester, während die Angst in ihr wuchs. „Was ist mit ihm?“, schrie sie die Spinne an. „Sag’s mir, sofort!“
Doch dann hörte sie ihn leise stöhnen und unendliche Erleichterung durchflutete sie. Er war also doch noch am Leben. Wahrscheinlich hatte er nur etwas Spinnengift abbekommen. Seine Lider flatterten, dann öffnete er die Augen und blickte Ticke so erstaunt an, dass diese beinahe gelacht hätte, so erleichtert war sie.
„Ich dachte schon, ’s wär aus mit dir!“, flüsterte sie.
„Aus? Wegen dieser fetten alten Staubfluse?“, krächzte er und versuchte zu grinsen, allerdings gehorchten ihm seine Gesichtszüge noch nicht völlig, alles, was er zustande brachte, war eine schiefe Grimasse. Mühsam richtete er sich auf, dann sah er die Spinne, die noch immer in einigem Abstand vor sich hin grollte. Erschrocken versuchte er sich ganz aufzurappeln und griff nach dem Speer, der noch immer neben ihm lag, aber Ticke hielt Sed fest.
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