1 ...8 9 10 12 13 14 ...19 Die Großen kannten keine Gefühle, sie zertrampelten einfach alles unter ihren riesigen Füßen; Füßen, die in Schuhen steckten, in die ein ganzer Klan hätte einziehen können, mit Schmettern und Eiern und allem. Unter ihren Schuhsohlen starben Käfer und Ameisen, Grashalme und Blumen lagen zerdrückt am Boden und wenn sie näher kamen, bebte die Erde. Was allerdings nicht nur schlecht war, denn jeder, der seinen Verstand beisammen hatte, war so gewarnt und hatte genug Zeit, sich davonzumachen. So waren die Großen keine wirkliche Gefahr. Deshalb waren sie aber nicht weniger schrecklich.
„Wie kann Ari dort sein?“, fragte sie die Morre laut.
Die Alte zuckte mit den Schultern. „Sie ist es eben.“
„Und wie soll ich sie finden?“
„Die Spinne kann dir helfen.“
„Wie denn?“
Die Morre hatte nach und nach alles zu einem großen Bündel zusammengepackt, das sie Ticke jetzt in die Hand drückte. In ihrem schlurfenden Gang humpelte sie einfach los; Ticke folgte ihr zögernd. „Wie denn?“, fragte sie noch mal.
Sedna antwortete nicht; sie schien Ticke gar nicht gehört zu haben und trotz ihrer sonderbaren Gangart musste Ticke sich anstrengen, um nicht zurückzufallen. Sedna sprach kein weiteres Wort, bis sie Platte verlassen hatten und über die dünnen Zweige der Birkenschösslinge zurück auf den Erdboden geklettert waren. Ticke hatte dabei das Bündel nicht gut genug gesichert, es war ihr aus dem Arm gerutscht und auf dem Boden aufgeprallt. Die Morre schien darüber ziemlich ärgerlich, was Ticke auch verstand, denn ihr kleiner Kessel, aus dem sie am Abend das Gebräu und später die Suppe getrunken hatte, war auch in dem Bündel gewesen. Glücklicherweise war der Boden um Platte weich und der Kessel so gut gefertigt, dass ihm nichts fehlte, aber das Missgeschick schien Sedna die Laune verhagelt zu haben und erst als sie schon ganz in der Nähe des Erlenhaines angekommen waren, sprach sie wieder mit Ticke.
„Du weißt nicht viel über Spinnen, schätz ich mal, wirst sicher noch viel lernen, mehr als dir lieb sein wird, vielleicht. Aber ein bisschen was kannst du auch von mir hören. Ich denk, du weißt, Spinnen schlüpfen aus Eiern, aus Spinneneiern, viele hundert kleine Spinnen. Einen ganzen Sommer lang bleiben sie zusammen, wachsen und werden stärker. Schließlich trennen sie sich, und jede macht sich auf und davon in die Welt. Wenn sie klein sind, reisen sie oft weit weg von dem Ort, wo sie aus dem Ei gekrochen sind … schwingen sich von Faden zu Faden und reisen mit dem Wind, wie die Schmetter. Spinnen gibt’s überall, wo es Mücken gibt und andere Tiere, die sie fangen können. Spinnen leben auch oft in der Nähe der Großen, sogar mit ihnen in ihren Hütten, habe ich gehört, obwohl ich noch in keiner war, ums zu bezeugen. Deine Spinne kann dir helfen.“
Ticke nickte. Wenn die Spinnen tatsächlich gut mit den Großen konnten, konnte das Untier ihr vielleicht wirklich eine Hilfe sein. Vorausgesetzt, es wollte das. Da hatte Ticke allerdings wenig Hoffnung. Schließlich hatte sie direkt gespürt, was die Spinne ihr gegenüber fühlte. Sedna machte sich da anscheinend falsche Vorstellungen.
„Sedna“, sagte Ticke, „Sedna, die Spinne wird mir aber nicht helfen wollen … sie, sie hasst mich.“
Die Alte blieb stehen und sah Ticke in die Augen. „Räupchen, Räupchen … hast anscheinend keine Ahnung, was es mit dem Band auf sich hat. Ist auch nicht so einfach, mächtig kompliziert eigentlich. Aber für dich reichts, dass sie machen muss, was du von ihr willst … mehr oder weniger jedenfalls, sie kann nicht anders.“
Damit hatte Sedna anscheinend alles gesagt, denn sie stapfte einfach weiter und Ticke folgte ihr, wenn auch von Ängsten und Zweifeln geplagt. Gestern Nacht war ihr klargeworden, dass sie alles tun würde, um Ari zu retten, wie aussichtslos es auch sein sollte. Nach all den schrecklichen und erschütternden Erlebnissen gestern wäre sie auf der Stelle losgegangen, keine Angst hätte sie davon abhalten können.
Aber jetzt, im Morgengrauen des neuen Tages, sah die Sache schon ganz anders aus. Mit Schrecken fühlte sie, dass sie noch immer Ticke war, das ängstlichste Golk des Baumes, und eine Angst nach der anderen tauchte plötzlich in ihrem Geiste auf. Sie musste zu den Großen, gut.
Aber wo waren die? Wie sollte sie dort hinkommen? Was sollte sie essen? Und sollte sie es wider Erwarten schaffen, diese ganz alltäglichen Schwierigkeiten in den Griff zu kriegen, dann gab es da noch die anderen, etwa die Großen, über die man sich furchtbare Geschichten erzählte, wie sie Bäume umwarfen und Flüsse zum Versiegen brachten. Wie sollte sie bei so mächtigen und gewalttätigen Wesen auch nur eine Stunde überleben? Wie würde sie sich fühlen, ohne jemand mit dem sie reden konnte, die lange Reise über bis zum bitteren Ende, niemanden außer einer feindseligen Kreuzspinne, die auch fünf Tickes hätte tragen können. Oder fressen.
Ohne es zu merken, waren sie stehengeblieben. Sie waren jetzt bei den Erlen angekommen. Dahinter begann der Sumpf, über dem undurchdringlicher Morgennebel hing. So dicht war er, dass es fast den Eindruck erweckte, als ende die Welt eben hier hinter der Böschung und danach gab es nur ein graues Nichts. Ticke schauderte.
Sedna deutete auf den Nebel. „Dahinter leben sie, die Großen. Du musst nur durchkommen.“
„Ist das nicht schrecklich gefährlich?“
„Na ja, ’s gibt allerlei, was gefährlich ist im Leben, aber ja, der Sumpf hat seine besonderen Tücken. Kann übrigens sein, dass du auf Leute triffst. Lass dich besser nicht auf Gespräche ein, nur so’n Rat.“
„Leute, was für Leute?!“, fragte Ticke erschrocken.
„Na Leute, Leute, so wie wir, na ja, so ähnlich auf jeden Fall.“
„Schmetterlingsleute leben im Sumpf?!“ Ticke schöpfte ein bisschen Hoffnung. Nicht, dass sie so besonders gerne Fremde kennenlernte, aber Schmetterlingsleute würden ein bisschen was von zu Hause bedeuten, sicher eine warme Suppe, ein Lager.
Doch Sedna räumte mit ihren Hoffnungen schnell und gründlich auf. „Nee, nee. Sind anderes, ganz andere. Red am besten nicht mit denen. Kann aber auch sein, dass du keinen triffst, ’s is lange Zeit her, seit ich von denen gehört habe, selbst für mich eine drummlich lange Zeit.“
Ticke fragte lieber nicht weiter, jedes Wort von Sedna schien die Sache noch schlimmer zu machen. Sie hatte nie verstanden, warum man sagte, eine bekannte Gefahr sei besser als eine unbekannte.
„So, Räupchen, es ist an der Zeit, dass ich geh. Hab keine Lust, dem achtbeinigen, schlechtgelaunten Ungeheuer zu begegnen. Kann sein, dass sie mich erwischt, bevor du auch nur Pieps sagen kannst. Hier hab ich dir was zu Essen.“ Sedna reichte Ticke den Rucksack, den diese vorher hatte fallen lassen und den Sedna wieder an sich genommen hatte. Den Kessel hielt sie in der Hand; er schien nicht Teil von Tickes Reiseproviant zu sein.
„Geh sparsam damit um, ’s is auch Wasser dabei. Trink nix aus den Sümpfen, aber das weißt du ja. Ach ja, und Räupchen, …“
„Ja?“
„Falls du einen triffst, kannst du ihn ruhig mitnehmen.“
„Einen? Wen denn? Wen treffe ich?“
„Ich sag nicht, dass du einen triffst, nur falls“ – Sednas dunkle Augen funkelten fröhlich – „nur falls , sag ich! So, Räupchen, Zeit zum Aufbrechen, denk dran, Angst is nix für Feiglinge!“
Sie kicherte und war so plötzlich verschwunden, dass Ticke sich die Augen rieb, um sicherzustellen, dass diese sie nicht betrogen hatten. Aber sie war allein.
Nichts war zu sehen außer die Bäume und Gräser, die grau und stumm noch zu schlafen schienen, nichts zu hören, kein Summen, kein Rascheln, alles wurde vom nahen Nebel aufgesogen.
„Sedna?“, fragte Ticke zögernd in diese Stille
„Sedna? Morre! Morre, komm wieder, ich weiß doch gar nicht …“
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