Anneliese Klumbies
Dienstmädchen und Leichtmatrose
Familienabgründe
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Inhaltsverzeichnis
Titel Anneliese Klumbies Dienstmädchen und Leichtmatrose Familienabgründe Dieses ebook wurde erstellt bei
Dienstmädchen und Leichtmatrose
1. Anna vom Dorfe
2. Der kleine große Bruder
3. Was geschah wirklich in Olvenstedt? Der 2. September 1923
4. Die Perle Anna
5. Wir hatten auch gute Zeiten, aber es waren zu wenige
6. Das weggegebene Kind
7. Ausgerastet
8. Das Altenheim
9. Es ist Krieg!
10. „Die Schlechte Zeit“ oder „Vor der Währung“
11. Die Motten
12. Brylcrem und Café Ruppert
13. Die fünfziger Jahre – Alltag, Freunde, Nachbarn
14. Wir Kinder der Nazi-Generation
15. Ein Vater besonderer Art
16. Auf hoher See
Anhang
Impressum neobooks
Dienstmädchen und Leichtmatrose
Dienstmädchen und Leichtmatrose
Familienabgründe
Anneliese Klumbies
Vorwort / Exposé
Dies ist die Geschichte von Anna Jordan, ihrer Kindheit, ihrer Jugend in dem großen Dorf Olvenstedt. Sie zieht als „Perle Anna“ in die Welt hinaus, vorerst ist das Magdeburg; man braucht nur ein kurzes Stück mit der Straßenbahn zu fahren, schon ist man da. In der ersten Stellung ist sie Dienstmädchen und Gesellschafterin der vornehmen alten Dame. Die ist Anna wohlgesonnen, denn sie vermisst ihre eigene verstorbene Tochter. Anna vermag sie zu trösten, es gibt wieder Leben im Haus, und Frau Doktor lacht mit Anna und freut sich, wenn diese zur Leierkastenmusik mit dem Teller durch die Küche tanzt.
Dann macht sie im Hause des Majors die damals durchaus typischen Erfahrungen mit dem Hausherrn. Sie haut ab und geht nach Frankfurt an der Oder. Dort hat sie es gut bei ihren Herrschaften, aber sie verliebt sich – unglücklich.
Nun endlich zieht es sie in eine Weltstadt, und die heißt Hamburg. Als Kind war sie mal bei Onkel Franz und Tante Amanda zu Besuch. Den Hafen, die Schiffe und die nahe Reeperbahn fand sie aufregend. Dort wollte sie wieder hin.
Zehn Jahre arbeitet sie im Altenheim Norderstraße in Altona. Die Arbeit ist schwer, aber die Arbeitszeit und die Entlohnung sind günstiger als im Privathaushalt. Jetzt kommt der Bekannte meiner Mutter ins Spiel, der mein Vater werden sollte. Anna und Hans-Werner lernen sich 1930 kennen, beim Tanz im „Oberbayern“ auf der Reeperbahn. Da ist mein Vater noch Leichtmatrose.
Sie bekommen zuerst zwei Söhne, der erste ist 1932 unehelich geboren, der zweite war schon ein Kriegskind. Hans-Werner ist leider auch als Vater ein Luftikus und Abenteurer, die tüchtige Anna muss ihn durchs Leben geleiten. Das schafft sie, sie hält die Familie zusammen und sorgt dafür, dass alle was werden.
Anna erlebt zwei Weltkriege, den zweiten sozusagen in der ersten Reihe. Während Hans-Werner auf See ist, vernichtet das schwere Bombardement vom 24. auf den 25. Juli 1943 ihre materielle Existenz, beinahe auch ihr Leben und das ihres zweitgeborenen Sohnes. Aber sie ist noch einmal davon gekommen. Es wird für Hamburg noch schlimmer, als ein paar Nächte später der Osten der Stadt von einem Feuersturm vernichtet wird.
Immer wieder ist Hamburg das Ziel der Bomben. In der Bülowklinik Altona werde ich 1944, fast genau ein Jahr nach dem Feuersturm, geboren. Meine Mutter teilt sich mit zwei Frauen das Bett. Die Ärzte sind überlastet, weil von draußen die Verwundeten hereinströmen, die sie nun zusätzlich versorgen müssen. Meine Mutter hat immer von den blutbefleckten Kitteln der Ärzte erzählt, die den Kindern ans Licht der Welt und den Verwundeten der Bombenangriffe gleichermaßen helfen mussten.
Endlich ist der Krieg zu Ende, das Ringen ums Überleben aber noch lange nicht. Zum Hunger kommen sibirische Winter. Das musste ja so kommen, Kalorien und Kohlen fehlen gleichermaßen. Hunderttausende sterben. Mit vereinten Kräften schafft die Familie es, nicht zu verhungern und auch nicht zu erfrieren. Hauptantriebskraft im Überlebenskampf ist nicht der Vater, sondern die Mutter. Der ältere Sohn ist den Eltern eine unentbehrliche Kraft beim Organisieren von Holz, Kohle und Kartoffeln. Immerhin hat der Vater mittlerweile einen Erwerb als Sägearbeiter und Kohlenträger.
Es geht langsam aufwärts. Aber Hans-Werner kommt mit sich und der Welt nicht ins reine. Von 1951 bis 1963 fährt er wieder zur See. Dann ist sein Leben vorbei. Er stirbt mit 52 Jahren den Seemannstod. Romantisch war das nicht. Meine Mutter überlebt ihn um beinahe vierzig Jahre. Als Kapitänswitwe ist sie versorgt, und sie ist begeisterte Großmutter. Mit 94 Jahren stirbt sie, mit dem Tod war sie gar nicht einverstanden.
Meine Mutter hat mir die ihr wichtigen Ereignisse ihres Lebens so häufig erzählt, dass ich sie nur aufzuschreiben brauchte. Der lustige Hund Max nimmt eine ebenso wichtige Stellung ein wie der liebevolle Großvater, die lieblosen Eltern, der geliebte Bruder. Alle Menschen - und Tiere -, die sie durch ihre Kindheit begleitet haben, verewigt sie in ihren Erzählungen. Die kurzen Episoden aus Kindheit und Jugend meiner Mutter folgen ihrem Erzählfluss. Hinzugefügt habe ich Deutungen ihrer Geschichte. Warum bloß hat sie ihr unehelich geborenes erstes Kind weggegeben? Was hatte sie gegen die Kommunisten? Später kommen meine eigenen Erlebnisse hinzu. Schließlich habe ich in den fünfziger Jahren zusammen mit meinem Vater die Wettbüros im zerstörten Altona erkundet, und ich habe mit ihm die Meere befahren.
Eigentlich wollte ich nur die Geschichte meiner Mutter aufzeichnen, aber nun ist es auch die Geschichte meines Vaters geworden. Und hier und da auch meine eigene. Den Namen meiner Mutter habe ich so benutzt, wie sie selbst es getan hat. Ihre Freundinnen haben sie Anni genannt, der Lehrer hat Anna gesagt.
Bumsvallera, die Welt ist wunderschön!
Anna klammerte sich an den Beinen ihres Großvaters fest. Im Gleichschritt marschierten beide humpelnd über die dörfliche Hauptstraße: Klick - klack machten die eisenbeschlagenen Schuhe ihres Großvaters auf dem Kopfsteinpflaster, klung-klong machten die Krücken, während Anna zwischen den Krücken Schritt zu halten versuchte. Aus vollem Halse schmetterten beide: „Bumsvallera, die Welt ist wunderschön, und wär' die Welt nicht wunderschön, so könnt man nicht spazierengehn!“ Und so ging es weiter, bis sie bei Ehreckes
Gasthof angelangt waren. Heute war wirklich ein schöner Tag, und Anna bekam Malzbier.
* * * *
Die Leute auf der Dorfstraße und an den Fenstern drehten die Köpfe: Da geht der alte Jordan wieder mit seiner Enkeltochter. Wie er sich mit der hat?! Seit die Enkelin bei ihrem Großvater wohnte, verbrachte er ganze Tage mit ihr. Zu seinen eigenen Kindern war er ja verdammt hart gewesen. Dann der schwere Arbeitsunfall. Sieben Meter fiel er vom Baugerüst in die Tiefe. Von den Ärzten wurde er mit Mühe wieder zusammengeflickt, aber seitdem hatte er große Schmerzen. Und er konnte nur noch an Krücken gehen.
* * * *
Selma hatte den Abendbrottisch gedeckt. Im Schlafzimmer hingen Schlackwurst, Mettwurst, Schwartenwurst und Schinken von den eigenen Schweinen, da hatte sie sich bedient. Außerdem gab es Käse und Griebenschmalz und saure Gurken. Von allem war reichlich da, und man wünschte sich: „Mohltied!“ Anna rutschte auf den Knien ihres Großvaters nach vorn und spornte ihn an: „Vadder, lang to, Selma langt ook to!“ Und mit ihren kurzen Armen suchte sie, Wurst und Schinken zu umfassen und vor den gierigen Händen der jungen Onkel und Tanten zu schützen. Hermine, Selma, Richard, Fritz, die noch zu Hause wohnten, beschwerten sich zum Schein sehr jammervoll bei ihrem Vater, der aber bedankte sich bei seiner Enkelin für ihre Fürsorge und wies seine Kinder barsch zurecht: Wenn ich Anni nicht hätte, würde ich bei euch doch glatt verhungern. Annas Augen glänzten, und sie kuschelte sich wieder auf dem Schoß ihres Großvaters zurecht.
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