Max und Moritz waren schlau, lebhaft und zu allem Spaß und Unsinn aufgelegt, genau wie junge Hunde. Mit ihnen konnte Anna wunderbar spielen. War ihre Mutter nicht da, lockte sie ihre Gefährten die Treppe hoch in die Küche. Was sie mit der Zeit nicht vertuschen konnte, dann nämlich, wenn Max oder Moritz oder Philipp, unterdessen gewachsen, mit ihren kurzen Beinen die Treppe nicht wieder hinunter konnten. An die Schweine hatte man beim Hausbau nicht gedacht! Ausgewachsene Schweine schaffen wohl manches, aber eine so steile Treppe nach unten ging auf keinen Fall, wie Anna jetzt lernen musste: Aufwärts immer, abwärts nimmer! Dann mussten Onkel Fritz und Willi Gerlach dem Vater zu Hilfe kommen, um das Schwein wieder die Treppe hinunterzukomplimentieren und ihm dabei zu assistieren. Die Männer ächzten, stöhnten und fluchten, das Schwein quiekte. Onkel Fritz und Willi Gerlach stemmten sich treppab gegen das schweinerne Gewicht, während oberhalb der Vater die Hinterbeine wie die Griffe einer Schubkarre hielt, nur dass er nicht schob, sondern zog und zerrte. Anna schaute besorgt und beschämt. Jetzt quälten sich die drei Männer, Moritz quälte sich erst recht und war höchst verängstigt. Aber er hatte doch so zustimmend gegrunzt und war ihr so bereitwillig die Treppe hoch gefolgt! Ihm war die Küche nicht fremd, hier kannte er sich aus. Annas warmes Mittagessen, das in der Grude warm gehalten wurde, schmeckte ihm. Aber dann weigerte er sich, ihr die Treppe hinunterzufolgen. Vernünftigerweise, wie sie jetzt wusste. Er hätte sich wohl die Beine gebrochen, die für diesen Zweck so gar nicht gedacht waren und vielleicht das Genick dazu! Der Protest ihrer Mutter gellte in ihre Ohren: „Wenn Vadder sich nu den Hals bricht, dann bist du schuld, du ganz allein.“ Anna duckte sich nicht rechtzeitig, und wieder klatschte es auf ihre Backe.
Eines Tages im Dezember rückten Onkel und Tante Krause an. Das bedeutete etwas Furchtbares, denn die beiden, an sich ganz nett, waren im Dorf für ein fatales Geschäft zuständig. Auf einer Karre schoben sie ihr Gepäck. Das Gepäck bestand aus Utensilien zum Schweineschlachten und zum Wurstmachen. Anna wischte sich eine Fläche in der beschlagenen Fensterscheibe frei. Nein, sie gingen nicht vorbei, sie steuerten auf ihr Haus zu. Ihr Herz schlug schneller, Entsetzen ergriff sie. Blitzschnell überlegte sie ihre geringen Möglichkeiten. Tot umfallen. Ohnmächtig werden. Aufhören zu atmen. Man konnte sich die Pulsadern aufschneiden, davon hatte sie schon mal gehört. Dann war man tot. Die Leute mit einer falschen Nachricht aus dem Haus locken?
Sie fiel nicht tot um. Sie wurde nicht ohnmächtig. Sie legte nicht Hand an sich. Die schlimmen Besucher hatten sich schon im Hause breit gemacht und waren nicht mehr wegzulocken. Anni schaffte es nur eine ganz kurze Zeit, nicht zu atmen. Ihr fiel nichts mehr ein. Sie konnte kein Blut sehen. Sie lief in Panik die Treppe hinunter und entwich aus der Vordertür. Aus Erfahrung wusste sie, dass Onkel und Tante Krause auf dem Hof an ihr Werk gingen. Sollte sie sich von ihren Gefährten verabschieden? Der Weg war bereits verstellt. Sie eilte aus dem Haus, rannte die Dorfstraße hinunter, rempelte ausgerechnet den Pastor an, entschuldigte sich über die Schulter, hastete weiter und schlug den Weg ins Nachbardorf übers Stoppelfeld ein.
Wenn ihr jetzt Panneke entgegenkam, würde sie ihm aber die Meinung sagen, dazu war sie fest entschlossen. Panneke gehörte zu den Außenseitern und Sonderlingen im Dorf. Unheimlich erschien er den Leuten, schief und krumm verwachsen war er, man hielt ihn für verschlagen. Panneke ließ seine zweirädrige Karre von einem Hund ziehen. Der war ganz nett und sah auch nicht verhungert aus. Wahrscheinlich bekam er Hamsterfleisch zu fressen. Panneke zog über die leer geernteten Felder. Damals waren Feldhamster in Deutschland noch sehr verbreitet. Diese Hamster sind viel größer, aber nicht weniger niedlich als die Goldhamster in heutigen Kinderzimmern. Panneke grub die Gänge der Feldhamster auf, um an ihre Vorratslager zu gelangen. In diesen Depots hamsterten die Hamster nach Hamsterart Getreide, das sie auf den Feldern eigenmächtig ernteten. Ob Panneke das Getreide als Hühnerfutter verkaufte oder selber verbrauchte, wusste Anna später in ihren Erzählungen nicht mehr genau. Fing er die Hamster, brachte er sie um, bearbeitete ihre Felle und verkaufte sie. Es gab eine Nachfrage dafür, sie wurden unter anderem zu Mützen und Schals verarbeitet. Das fand Anna gemein. In ihrer jetzigen Stimmung würde Anna jedenfalls keine Angst vor ihm haben. Sie traf ihn nicht an. Panneke war noch einmal davongekommen, die Tierwelt blieb fürs erste ungerächt.
Das erste, was Anna bei der Rückkehr begegnete, war der betörende Duft der Wurstbrühe, der aus dem Waschkessel aufstieg. Die Leute aus der Nachbarschaft standen mit ihren Milchkannen und blechernem Essgeschirr Schlange nach der Brühe, die, so war es Brauch, bei solchen Anlässen bereitwillig ausgeteilt wurde. Gerade kam Anna zurecht, als Tante Krause die ersten fertigen Würstchen bei den Kindern ausrief. Wer will die erste Wurst haben? Ohne nachzudenken riss Anna ihren Arm hoch und schrie laut ICH, wie alle anderen Kinder auch. Doch Anna erhielt sie, und bei dieser ersten Wurst sollte es nicht bleiben. Als die Erwachsenen mit der Hauptarbeit fertig waren, gab es traditionell – Hasenbraten. Wahrscheinlich handelte es sich um Kaninchen. Vielleicht wurde damit ein Tabu aus Respekt gegenüber den geopferten Schweinen eingehalten. Schnaps gab es dazu. Schnell wurde es lustig. Als Anna am Stall vorbei zum Klo ging, wandte sie den Blick ab. Was unterschied sie denn von Panneke? Der behauptete schließlich nicht, die Hamster geliebt zu haben. Anna verbot sich jeden Gedanken an Max und Moritz. Als die Schinken und Würste im Gazeschrank im Schlafzimmer und in der Speisekammer aufgehängt wurden, dachte sie schon nicht mehr an Max. Sie hatte sich nicht verabschiedet, und das war zweifellos besser so.
Es herrschte keine Not. Sonntags fand ein Ritual bei Jordans statt: Wurst wurde vermessen. Dann lag ihr Vater länger im Bett, hatte ausgeschlafen und war guter Laune. Die Laune wurde noch besser, wenn er den Kindern Stücke von der unglaublich wohlschmeckenden hausgemachten harten Mettwurst abschnitt, die im Schlafzimmer hing. Die Kinder schrien immer „mehr“, wenn er mit dem Finger das Stück Wurst anzeigte, das er ihnen abschneiden wollte. Stets ließ er sich darauf ein, noch mehr abzuschneiden. Sich selbst bediente er natürlich auch großzügig. Anschließend wurde es allmählich Zeit für den Sonntagsbraten. Und nachmittags besuchte man sich zum Kaffee. Am Sonnabend hatten die Frauen die Bleche voller Hefekuchen im Rohzustand zum Bäcker getragen, im großen Backofen wurden die Kuchen dann gebacken. So war es üblich und praktisch geregelt auf dem Dorf, der Bäcker erhielt dafür ein kleines Entgelt. Je nach Jahreszeit waren die Blechkuchen mit Zucker und Mandeln bestreut oder mit dem Obst der Saison belegt. Anna liebte Pflaumenkuchen mit Streuseln. Die Kaffeegesellschaften lösten sich reihum ab. Anna war gerne bei ihren Tanten. Manchmal hörte sie aufmerksam dem Klatsch und Tratsch zu, meistens fand sie die Gespräche eher langweilig. Die Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen spielten mit ihr, und Anna bespielte das anwesende Viehzeug.
Lotte
Eines Tages kam Annas Vater mit einem Schäferhund nach Hause, der hieß Lotte. Lotte war ein Polizeihund, ihrem Vater in Obhut gegeben. Anna war selig. Den Diensthund ihres Vaters betrachtete sie von nun an als ihren Hund. Mit Lotte konnte sie alles anstellen, sie ließ sich von ihr alles gefallen und war dabei lammfromm. Überhaupt sah Lotte harmlos aus und konnte so töricht gucken, dass man sie mit diesem Gesichtsausdruck leicht unterschätzte. Aber das war ja gerade das Raffinierte. Mit der Hündin konnte Anna überall hingehen, niemand würde wagen, ihr etwas zu tun, wenn sie dabei war, davon war sie überzeugt. Bereits an der Stimme hörte Lotte, wenn etwas nicht stimmte. Wenn ihr Vater mit jemandem sprach und Lotte merkte „Gefahr“, fing sie leise an zu knurren, und schon das hörte sich so bedrohlich an, dass die Leute sich schnell kleinlaut und höflich zurückzogen. Sie hatten Lotte noch nicht lange, da wurde sie trächtig. Drei Junge bekam sie, wuselig, tapsig und wie aus Plüsch gemacht. Das war das schönste Geschenk für Anna. Lotte duldete es, dass sie mit den Jungen herumspielte. So viel Verstand hatte Anna schon, dass sie nur in Gegenwart der Hundemutter mit den Welpen spielte und sie nicht aus ihrem Blickfeld trug.
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