Manchmal saß sie ganz blass da, ein paar Mal verließ sie den Orchestergraben für kurze Zeit, kam wieder und spielte weiter.
Einmal erzählte sie mir, sie sei deswegen in der Anstalt bei einer Ärztin gewesen. Auf einmal sei sie in einem Hörsaal gestanden und hätte von ihren Schwierigkeiten beim Cellospielen erzählen sollen. Für sie sei das so überraschend gewesen, als sie die vielen Leute sah, dass sie gesagt hätte, sie könne nicht vor so großem Publikum sprechen.
DAS WAR AUF DER ANDEREN ANSTALT, unterbricht mich Schneider schnell.
Die Ärztin war ziemlich ungehalten, Choung Sim ist nicht mehr in die Anstalt gegangen.
Während wir mit unseren Trauzeugen vor dem Zimmer des Standesbeamten saßen, wurde mir übel.
„Du kannst es dir noch überlegen“, bot ich Peter an, der erstaunt reagierte: „Aber nein, warum denn?“
Es wundert mich, dass Schneider nicht sagt „Sie wollten gar nicht heiraten“.
Meine Handschmerzen scheinen endgültig weg zu sein. Dafür geht es mir schlechter als zuvor. Manchmal glaube ich, dass die physischen Schmerzen das kleinere Übel waren.
Es gibt nichts, worauf ich mich freue und meine täglichen Pflichten sind nichts als Lasten. Die Therapiestunden sind meine einzige Abwechslung, aber auch dorthin gehe ich nicht gerne. Ich gehe hin, weil ich gewohnt bin, Termine pünktlich einzuhalten. Irgendwann müsste es mir doch auch wieder einmal besser gehen. Ich bin froh, wenn der Tag zu Ende ist. Schlafen. Nichts wissen und nichts spüren. Ich empfinde mein Leben als total verpfuscht und sehe keine Möglichkeit, irgend etwas rückgängig zu machen. Weiß nicht, was ich an meiner jetzigen Situation ändern könnte, alles scheint festgefahren, alles zu Ende.
Und ich möchte mir selbst helfen können, nicht nur auf diese Therapie angewiesen sein, mich nicht als die Maschine meiner Einfälle fühlen müssen. Ich möchte wissen, was ich habe, wie diese Krankheit heißt und wie diese Therapie funktioniert.
Mir ist aufgefallen, dass Schneider immer wieder einzelne Worte wiederholt, wenn ich etwas erzähle.
Ich frage ihn, ob er das für mich tut, oder für sich. Er sagt, er könne nicht ausschließen, dass er es auch für sich täte, an und für sich würde er die Worte aber für mich wiederholen. Darauf vergehen ein paar Stunden, ohne dass er etwas wiederholt und das macht mich noch aufmerksamer. Wochen später erkenne ich, was er damit bezweckt, weil er, nachdem er ein Wort wiederholt hat und ich etwas dazu gesagt habe, AHA sagt.
Wenn er ein Wort wiederholt, weiß er nicht genau, was ich damit meine und möchte, dass ich noch etwas dazu sage. Ab nun sage ich nichts mehr zu seinen Wiederholungen, wenn es mir früh genug auffällt.
Ich frage Schneider, was ich habe. Er sagt, es gäbe kein Lehrbuch, nach dem er mich behandle, kein Schema nach dem er vorgehe.
Ich bin überzeugt, dass er mir etwas verheimlicht. Er will, dass ich bestimmte Sachen nicht weiß, will mich beherrschen.
Ich sage, dass ich manchmal nicht verstehe, wovon er spricht, dass ich oft das Gefühl habe, dass er etwas ganz anderes meint, als er mit Worten ausdrückt, dass er manchmal Dinge sagt, die ich nie gesagt habe, dass er mehr über mich weiß, als er zugibt. Und ich würde immer noch gern wissen, wie dieser Test, den ich zu Beginn gemacht habe, aussieht.
Schneider sagt, ich könnte genauso gut daheim bleiben, wenn ich bei ihm nichts Neues über mich erfahren würde, und dass er immer nur so viel über mich wissen könne, wie ich ihm über mich verraten würde.
Ich spüre, dass ich so nicht weiter komme und nehme mir vor, mehr zu lesen. Ich muss hinter dieses System kommen, muss meine Krankheit beim Namen nennen können, muss mich irgendwo einordnen können. Wenn ich weiß, was ich habe, kann ich auch damit umgehen.
Bis jetzt weiß ich, dass es sich in diesen Stunden nur um Übertragung handelt. Und um Gegenübertragung. Das mit der Übertragung ist mir klar: Ich erzähle meine Erlebnisse, Schneider spielt die Personen, die darin vorkommen und soll alles „zu einem besseren Ende führen“.
Aber die Gegenübertragung? Was ist Gegenübertragung? In allen Büchern wird dauernd mit diesen beiden Begriffen gearbeitet. Warum aber kann kein Autor für einen Laien verständlich erklären, was Gegenübertragung ist?
Ich begebe mich auf Psychotrip und lese alles, was ich über Psychoanalyse finde. Fühle mich je nach Abschnitt ein bisschen hysterisch, ein bisschen zwanghaft, von allem etwas. Da gibt es eine Abhandlung über Masochismus. Die überblättere ich. Das ist das Einzige, das auf mich nicht zutrifft. Erinnere mich, wie ich geprügelt wurde, an die Striemen und an die Schmerzen. Wenn ich an meine Kindheit denke, denke ich zuerst an Prügel.
Prügel für jedes Nichtgenügend auf Prüfungen und Schularbeiten. Mit dem Hosenriemen meines Vaters. Nicht zimperlich, jeder Schlag ein Streich. Ich hatte ihn dafür gehasst, biss die Zähne zusammen und war stolz, wenn ich nicht weinen musste.
Meine Großmutter bettelte manchmal für mich, hatte aber nie Erfolg damit. Zu solchen Zeiten gab ich mir besondere Mühe, die Schmerzen zu verbergen. Meine Mutter war mit diesem Verfahren einverstanden, offenbar hielt sie es für eine unterstützende Begleitmaßnahme.
Auch meine Freundin wurde von ihrem Vater geschlagen, sie zeigte ihre blauen Flecken um die Schulter. Man war beeindruckt, geholfen hat ihr niemand.
Ich sprach mit niemandem. Die Striemen waren nicht ohne weiteres sichtbar. Hätte man sie gesehen, ich hätte mich bemüht, sie zu verstecken.
Am Tag, bevor ich in der dritten Klasse durchfiel, erklärte meine Mutter, falls das Zeugnis negativ ausfallen würde, bräuchte ich nicht mehr nach Hause kommen. Ich besorgte mir Zugfahrpläne, ging aber nach der Zeugnisverteilung nicht zu den Gleisen, sondern ein paar Stunden durch den Wald. Als ich schließlich doch nach Hause kam, wusste sie es schon. Die Prügel waren wie immer.
Bevor ich in der vierten Klasse durchfiel, holte mich unser Klassenvorstand, den wir in Mathematik hatten, zu einem Gespräch unter vier Augen. Die Lehrerin sagte, man käme nicht an mich heran, meine Mutter täte ihr leid. Ich musste versprechen, noch am gleichen Tag für die Chemieprüfung den Hochofen zu lernen – und fiel in Mathematik und Geschichte durch. Die Prügel waren wie immer.
Meine Schwester Hanna ruft an. Sie möchte wissen, wie es mir geht, was mit den Handschmerzen ist.
„Das hängt mit Papa zusammen.“
„Wieso?“
„Er hat mich sexuell missbraucht“, am Telefon sagen sich solche Dinge leichter.
„Soso“, sagt sie ironisch. „Dieses Lied singen wir alle.“
Ich bin überrascht. Sie auch, meine älteste Schwester auch? Und ich habe nichts davon gewusst. Hanna möchte mit mir reden. Zu meinen beiden Schwestern habe ich keine Beziehung, sie sind mir immer fremd geblieben. An diesem Nachmittag spüre ich zum ersten Mal eine Vertrautheit und möchte wissen, wie das bei ihr war.
Sie erzählt, dass er sie immer zu sich ins Bett geholt hat, wenn unsere Mutter im Garten arbeitete. Dass sie ihn dafür gehasst hat, ihn hätte umbringen können. Es hätte gedauert, bis sie 18 war.
Ich frage, was sie über unsere älteste Schwester weiß, sie hat mit ihr nicht darüber gesprochen, weiß nur, dass sie herhalten musste, nachdem mein Bruder und ich mit unserer Mutter nach T. gezogen waren.
Hanna hat ihrem Mann vom Missbrauch erzählt. „Ich habe einen Mann geheiratet, von dem ich weiß, dass er so etwas nicht tut.“ Und ich denke an meine Stiefmutter, die ich immer für eine böse Gerüchtevertreiberin gehalten habe, wenn sie sagte, Hannas Tochter sehe ihrem Vater überhaupt nicht ähnlich. Er hätte nämlich Drüsenkrebs gehabt und könne gar kein Kind zeugen, sie wisse das von einem Arzt. Jetzt scheint mir das zum ersten Mal möglich.
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