„Gebabt“, sage ich bekräftigend.
WAS HEISST DAS?
„Begabt“, erkläre ich milde.
Wenn Prof. S neben mir saß und diktierte, fielen ihm regelmäßig die Augen zu. Ich wartete dann eine Weile und wenn es mir zu lange dauerte, drückte ich die Leertaste der elektrischen Schreibmaschine. Prof. Schläfrig fuhr dann jedes Mal erschrocken auf und das Spiel wiederholte sich ein paar Minuten später von Neuem.
"Manchmal setzte er sich so nahe zu mir, dass ich mit dem Sessel zur Seite rücken musste und kaum noch Platz hatte.“
WOLLTE ER SICH MIT IHNEN ETWAS ANFANGEN?
„Nein, sicher nicht.“ Meine Stimme klingt gereizt.
HAT ER SIE AUCH SEKKIERT?
„Ja“, sage ich und denke: Schau her, so gut kennt Schneider ihn.
„Prof. Schläfrig hatte eine eigene Therapie entwickelt. Jedes Mal, wenn er den Namen dieser Therapie diktierte, buchstabierte er jedes einzelne Wort. Ich habe mir damals oft gedacht: Vielleicht glaubt er, ich bin so blöd."
VIELLEICHT WAR ER SO BLÖD. SOZIAL, MEINE ICH.
Zeitweise wurde mein Gehalt zum Stipendium, weil Prof. Schläfrigs Arbeitslust bald rapide abnahm. Zuerst rief er mich am Wochenende mindestens fünf Mal täglich an: entweder, um mir zu sagen, dass er noch nicht wisse, wann er Zeit hätte, oder er musste mir mitteilen, dass er mich gleich wieder anrufen würde, wann ich kommen solle. Sein letzter Anruf, in dem er mir bekannt gab, dass es heute wohl nichts mehr würde, kam dann meistens gegen 22 Uhr.
Ich hatte damals ein ziemlich schlechtes Gewissen, weil ich Geld bekam, für das ich kaum Leistung erbracht hatte und traute mich bald keine Fragen mehr zu stellen, weil Prof. Schläfrig, wenn er etwas erklärte, die Zeit vollkommen vergaß und ich an unsere Chemielehrerin denken musste, die wir, um eine ruhige Stunde zu haben, in schwierige Fragen verwickelten, welche sie mit missionarischem Eifer löste.
Nachdem ein paar Wochenenden so vergangen waren, konnte ich Prof. Schläfrig schwer abschlagen, wenn er mich bat, noch nach dem Theater zu ihm zu kommen. Später hatte er auch an jenen Tagen, an denen ich vormittags Probe hatte, noch Dias für Vorträge zu schreiben, rein zufällig. Ich war dann pünktlich um 6 Uhr früh bei ihm – und kam gerade rechtzeitig, um ihn aufzuwecken. Dass er mir im Schlafanzug öffnete, schien ihn nicht zu stören, mich ärgerte es. Ich fühlte mich missachtet.
Als ich ihm dann sagen musste, dass ich schwanger war, war ihm das offensichtlich nicht recht: „Werden das Zwillinge?“, fragte er einmal unfreundlich, während er auf meinen Bauch starrte.
Mit fortschreitender Schwangerschaft wuchs auch Prof. Schläfrigs Arbeitslust. Der Sommer 1981 war heiß und ich fühlte mich schwerfällig. Ausgerechnet jetzt waren plötzlich stapelweise Krankengeschichten sehr dringend und möglichst rasch durch das Areal zu transportieren. Und während ich durch die Höfe hetzte, hatte ich einmal so starkes Seitenstechen, dass ich vor Verzweiflung weinte.
Prof. Schläfrig war damals der Ansicht, ich hätte in Anbetracht meiner geleisteten Stunden mindestens zwei Monate nach der Entbindung unentgeltlich für diese Studie zu arbeiten, danach würde der Vertrag verlängert. Ich wagte zwar nicht zu widersprechen, hielt diesen Zeitraum sogar für durchaus angemessen, empfand den Vorschlag aber trotzdem als Anmaßung. Schließlich war die Arbeit durch seine Schuld so in Verzug geraten.
Ich hatte Prof. Schläfrig versprechen müssen, ihn sofort nach der Geburt „über den Erfolg“ zu benachrichtigen. Ich wartete, bis die Geburtsanzeigen fertig waren und saß einen ganzen Nachmittag über dem Text, den ich ihm zukommen lassen wollte.
Wie sollte ich ihn anreden? Auf seinen Professorentitel war er stolz, den wollte ich weglassen. ‚Sehr geehrter Herr Dr. Schläfrig‘ wäre plump gewesen. Schließlich ließ ich die Anrede überhaupt weg, teilte ihm knapp mit, wie groß und wie schwer „der Erfolg“ gewesen war und setzte meinen Namen ohne irgendwelche Grüße darunter.
"Es war eine seltsame Geburtsanzeige, Prof. Schläfrig hat sich darauf nicht mehr gemeldet."
JEMAND ANDERER HÄTTE GESCHRIEBEN: HOCH VEREHRTER HERR PROFESSOR SCHLÄFRIG! RUTSCHEN SIE MIR DEN BUCKEL RUNTER. ERGEBENST IHR ... UND SIE HABEN DAS EBEN SO GEMACHT, WEIL SIE NICHT MEHR VON IHM ABHÄNGIG WAREN. ABER DASS SIE DAFÜR EINEN GANZEN NACHMITTAG VERBRACHT HABEN, DAS WAR ER WOHL NICHT WERT.
„Und manchmal war er dann wieder richtig nett. Irgendwo ist er ein armer Hund. Er wohnt mit seiner Mutter und bedeckt sie mit seiner ärztlichen Kunst.“
Schneider hat das Thema wieder auf Prostitution gebracht.
„Jedes Mal, wenn Sie mir das vorhalten, empfinde ich es als Ohrfeige.“
ABER DAS IST JA IHR PROBLEM.
„Das ist ein ziemlich harter Job.“ Und jetzt bemitleide ich alle Prostituierten dieser Welt. „Das Schlimmste war jedes Mal, wenn ich zum Schluss das Geld dafür genommen habe.“
WIEVIEL HABEN SIE DENN GENOMMEN?
„Das, was ich dafür bekommen habe.“
IHRE PROSTITUTIONSVERSUCHE ... er sagt das mitleidig wie ein Vater zu seinem Kind, das die Schule explodieren lassen wollte und nur ein Fenster eingeschlagen hat.
Prostitutionsversuche klingt harmlos, nach Versuch. Das Wort gefällt mir. Auch wenn ich weiß, dass es keine Versuche sondern Durchführungen waren.
Mir fällt ein, wie ich schwimmen gelernt habe:
Ich war 12 Jahre, als meine älteste Schwester zu Besuch kam und beschloss, mich schwimmen zu lehren.
SIE HAT SIE INS WASSER GESCHMISSEN, stellt Schneider fest.
„Nein, sie hat mir erklärt wie es geht, dann ist sie gegangen und hat gesagt, ich soll üben. Ich wollte meiner großen Schwester gefallen und plagte mich, doch es ging nicht.
„Ich habe ja Angst gehabt.“
JA
Da habe ich eine Idee: Ich hole sie und sage ihr, dass ich schwimmen kann. Schließlich weiß ich theoretisch wie es geht und kann dann immer noch behaupten, ich hätte es gekonnt. Sie kommt mit, wir gehen ins Wasser. Ich rudere mit Händen und Füßen so schnell ich kann, strenge mich ungeheuer an – und kann schwimmen.
„Damals habe ich mich selbst besiegt.“
SIE BESIEGEN SICH IMMER SELBST. WAS KÖNNTEN SIE ERST LEISTEN, WENN MAN LIEB ZU IHNEN WÄRE.
Schneider fragt, ob es noch etwas gibt, das er nicht wisse. Ich verstehe nicht, was er meint und verspreche, dass ich darüber nachdenken werde.
Mir fällt das Auto ein, das ich von Oldie bekommen hatte. Seit dem Erwerb meines Führerscheins waren einige Jahre vergangen, ich wollte damals eigentlich kein Auto.
„Mein Fahrlehrer hat mir aufs Knie gegriffen“, erinnere ich mich nebenbei.
Ich nahm das Geld, das ich von Oldie bekommen hatte und gab nur einen Teil davon für ein benzinfressendes Monstrum aus.
„Ich konnte mir damals kein Auto leisten, ich hatte oft nur die Wahl zwischen Benzin und Essen. Dann kaufte ich Benzin und fuhr in mein Elternhaus essen."
Schneider lacht. Er macht den Vorschlag, die Therapie unentgeltlich weiterzuführen.
„Das möchte ich nicht“, lehne ich ab und denke daran, wie wenig Geld ich zur Verfügung habe. Ich will nicht abhängig werden, nicht Dankbarkeit zeigen müssen, obwohl ich meine Abhängigkeit längst spüre, daheim dauernd an die Therapie denke, an meine Trägheit, meine Ohnmacht, meine Unfähigkeit mich zu ändern, meine Scham.
„Sie haben selbst gesagt, dass das weder für Sie noch für mich gut wäre.“
SO HABE ICH DAS DAMALS NICHT GEMEINT.
ICH MÖCHTE NICHT, DASS SIE WEGEN DER THERAPIE IRGEND EINE DUMMHEIT MACHEN.
Was meint er damit?, frage ich mich und beruhige ihn: „Wir verhungern schon nicht.“
ICH GLAUBE NICHT, DASS SIE DENKEN, ICH WÜRDE SIE VERGEWALTIGEN, ABER VIELLEICHT DENKEN SIE, ICH WÜRDE IHNEN DIE HAND AUFS KNIE LEGEN?
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