Ich war zuerst steif vor Schreck und konnte mich überhaupt nicht rühren. Dann lief ich ins Haus und die Treppen hinauf in die Küche.
Und während ich das erzähle, habe ich wieder das zugeschnürte Gefühl von damals in der Brust und bekomme keine Luft.
Oben, in der Küche, wo meine Mutter und meine Großmutter saßen, schrie ich dann. Ich schrie so lange, bis ich nicht mehr konnte.
SIE HABEN EINEN SCHOCK GEHABT.
Meine Mutter las und blickte kaum auf. Getröstet hat mich damals niemand.
Schneider hat gesagt, er hätte wenig Zeit. Der letzte Rest meines Stolzes besteht darin, dass ich peinlich darauf bedacht bin, keine Minute länger zu bleiben als mir zusteht.
Schneider hat gesagt, ich sei sehr empfindlich.
Ich habe einen schlimmen Traum: Peter vergewaltigt Nina, so wie sie jetzt ist, als Baby. Ich liege daneben, weine und bettle, dass er aufhört. Er macht weiter, dreht sich zu mir und sagt, ich soll nicht so empfindlich sein.
Ich weine, als ich das erzähle. „Mein Mann kann da nichts dafür.“
NEIN. Schneider meint, dass Nina ich selbst sei.
JETZT VERFLGT SIE DAS SCHON BIS IN DEN TRAUM. UND IHRE MUTTER HAT AUCH NICHT AUF SIE AUFGEPASST.
„Ich habe eine Katze gehabt.“ Schon wieder rinnen mir die Tränen herunter.
Ich hatte sie in der Auslage einer Tierhandlung gesehen. Sie war die einzige rote in einem Knäuel von jungen Katzen, es war Liebe auf den ersten Blick. Mit meinem Theatervertrag hatte ich das Gefühl, dass ich nun sesshaft und „reif“ genug für ein Haustier war. Ich hatte „Tiger“ gerade eine Woche, als ich in die Wohnung kam und ihn wie gelähmt, kläglich miauend, vor der Tür fand. Vollkommen ratlos packte ich das Tier in den Transportkorb und fuhr damit zum Arzt. Dieser stellte schwere Rachitis fest und verpasste eine Injektion und hochwertige Nahrung.
Tiger genas zu einer Prachtkatze, wir tolerierten einander absolut. Er schlief in meinem Geigenkasten, während ich übte und ich fand es selbstverständlich, dass nur der Samt dieses Kastens würdig war, seine Krallen zu schärfen.
Als ich zu Peter zog, war die Katze kein Thema. Er hatte zwar öfter gesagt, er finde dieses Tier reichlich verwöhnt, nachdem es aber mein Tier war, sah ich darin kein Problem. Die Schwierigkeiten begannen bald nach meinem Umzug: Es stellte sich heraus, dass meine männlichen Mitbewohner aufeinander eifersüchtig waren. Wenn ich daheim war, hatte Tiger die Oberhand. Kam Peter in seine Nähe, musste er immer damit rechnen, einen Kratzer abzukriegen. Wenn ich nicht da war – sagte Peter – war die Katze „wie vom Erdboden verschwunden“. Als ich einmal krank im Bett lag, saß Tiger, der das nicht registriert hatte, den ganzen Abend unter dem Tisch und knurrte.
Eines abends kam ich heim, Peter empfing mich mit unheilvoller Miene, keine Spur von meinem Kater, der mich sonst jedes Mal begrüßte. Peter klagte, das Tier habe seine Lieblingsvase, eine unersetzliche Antiquität, zerbrochen und zeigte mir die Scherben. Ich ging durch die Wohnung und fand in einer Ecke meine völlig verschüchterte Katze. Nach und nach kam es heraus: Peter hatte Tiger racheerfüllt mit dem Besen durch die Wohnung gehetzt. Dabei verlor Tiger offenbar aus Angst auf seiner Flucht Kot. Peter wurde darauf noch wütender und verfolgte ihn umso mehr. Er gab auch zu, ihn geschlagen zu haben.
In dieser Nacht schlief ich in einem anderen Bett und fasste den Entschluss, wieder in meine Wohnung zurückzukehren. Als ich am nächsten Tag mit einer Freundin darüber sprach, fragte sie verwundert: „Du stellst ein Tier über einen Menschen?“ Sie erzählte, wie sehr sie den Hund ihres Mannes gehasst hatte, vor dem sie nur dann keine Angst hatte, wenn sie ihn füttern musste.
Darauf beschloss ich, die Angelegenheit anders zu lösen. Mit Peter wollte ich Tiger nie mehr alleine lassen. Ich brachte den Kater zu meiner Schwester, „zu guten Leuten aufs Land“. Dort verweigerte er ein paar Tage die Nahrungsaufnahme, entdeckte schließlich die Natur und führte ein kurzes, aber aufregendes Katzenleben.
Mit Peter habe ich darüber nicht mehr gesprochen, verziehen habe ich ihm das nie.
ES WIRD SCHON EINEN GRUND HABEN, WESHALB SIE SOLCHE ANGST VOR AGGRESSIONEN HABEN.
Ich sitze daheim am Küchentisch und denke nach. Grüble über meinen Vater, über die Therapie. Plötzlich geschieht etwas, das ich vorher noch nie erlebt habe:
Ich steige aus mir heraus und lasse mich am Tisch sitzen. Vor mir habe ich ein Kreuz, dann bin ich Gott. Unter mir nur Schutt und Asche. Ich sehe alles . Nein, sage ich mir, genug, bis hierher und nicht weiter. Nun bin ich wieder da und sitze am Küchentisch. Bin noch verwirrter als vorher und habe Angst. Verstehe nicht, wieso mir so etwas passieren kann. Mir, die an nichts glaubt, am allerwenigsten an Gott. Nicht denken, nicht denken ...
Am nächsten Tag muss ich vor meiner Therapie bei Schneider noch in die Gruppe. Ich habe beide Therapien ungefähr gleichzeitig begonnen. Schneider hat gemeint, man könne nur eine Therapie machen, ich habe darauf Dr. Huber angerufen und wollte mich von der Gruppe abmelden. Dr. Huber wiederum sagte, die Gruppentherapie sei ohnehin bald zu Ende, ich solle Schneider fragen, ob ich sie fertig machen könne.
Die Gruppe hat ursprünglich aus 12 Personen bestanden, ziemlich viel Elend auf einem Platz. Nach und nach sind es immer weniger geworden. An einem Tag sind wir nur noch drei. Ich habe meinen Platz neben einer Frau, die altersmäßig meine Mutter sein könnte und Probleme mit ihrem Sohn hat. Ich fühle mich auch in der Gruppe nicht wohl und habe das Gefühl, dass ich nichts Positives beitragen kann. Muss jedes Mal mitweinen, wenn jemand weint und werde Verweigerer genannt, weil ich kaum den Mund aufbringe.
Ich erzähle über mein Erlebnis in der Küche. Meine Befürchtungen, dass man mich auslachen wird oder sagen, ich sei verrückt, gehen nicht in Erfüllung. Helfen kann mir aber auch niemand.
„Was geschieht mit der Schuld?“, frage ich Dr. Huber. „Nimmt sie der Therapeut auf sich? Und was macht er damit?“
Und in diesem Augenblick sehe ich Charlie Chaplin im Film „Der große Diktator“ vor mir, als er die Weltkugel tanzen lässt und stelle mir vor, dass Schuld etwas ist, womit man jonglieren kann, zumindest theoretisch.
Dr. Huber beantwortet meine Frage nicht. Er fragt an diesem letzten Tag, was ich von der Gruppe profitiert hätte. Ich denke kurz nach und sage, dass ich, weil ich neben dieser Frau sitze, wohl noch immer meine Mutter suche.
Dr. Huber sagt, dass ich die Einzige gewesen sei, die sich abgemeldet habe, und dass ich die Gruppe in ihrem Rest zusammengehalten hätte. Er hoffe, dass mir die Gruppe nicht mehr geschadet als genutzt hätte (ich fühle mich nicht geschädigt).
„Das, was man über andere sagt, erzählt man über sich selbst. Was man von der Vergangenheit erzählt, ist auch heute noch aktuell. Die analytische Situation kann man jedoch nicht im Alltag anwenden. Sie sind bei Dr. Schneider in guten Händen.“
Der Rest der Gruppe will anschließend noch in ein Lokal gehen. Ich habe Angst und verlasse den Raum, ohne mich zu verabschieden.
„Ich habe gestern halluziniert“, sage ich, während ich auf der Couch liege.
DAS IST ABER SCHLECHT, kommt die Antwort von hinten.
Ich erzähle das Ganze noch einmal und spüre wieder die Angst. Ich glaube, dass ich schnell ein Medikament brauche. Ich habe so ein unsicheres Gefühl über mich selbst.
STEHEN SIE AUF.
Schneider bietet mir den zweiten Sessel an, sperrt seinen Schreibtisch auf und sagt, er wolle sich noch einmal meinen Test ansehen.
ICH HABE SIE ABER BEIM VORGESPRÄCH GEFRAGT, OB SIE STIMMEN HÖREN.
„Ich höre keine Stimmen“, sage ich verärgert.
Er sieht den Test flüchtig durch und legt die Blätter wieder in die Mappe zurück.
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