Er ging zurück ins Schlafzimmer. Lena schlief. Für Liam war es ein absurdes Bild.
‘Wie konnte sie bloss schlafen?’ fragte er sich. Also rüttelte er sie unsanft aus dem Schlaf zurück in die bittere Realität.
“Wie sieht dein Plan aus?” fragte er direkt in ihr müdes Gesicht. Sie stöhnte.
“Ich weiss es nicht”, murmelte sie, während sie sich die Augen rieb.
“Wir brauchen ein Fahrzeug”, beantwortete Liam seine Frage. Lena setzte sich auf und stöhnte erneut.
“Wo willst du denn hin?”, fragte sie verwirrt umher blickend, “du wirst dich in Gefahr bringen.”
“Ich muss hier weg”, insistierte Liam. Er wurde sichtlich nervöser. Noch nie fühlte er sich so hilflos. Doch für ihn war klar, dass er nicht in der Wohnung bleiben konnte.
“Ohne Risiko gibt es keinen Gewinn”, sagte er sich.
“Ich frage meinen Nachbarn, ob ich mir seinen Wagen ausleihen darf”, sagte er bestimmt und verliess zielstrebig das Schlafzimmer. Er drückte zuerst sein Ohr gegen die Wohnungstüre und als er von draussen her keine Geräusche vernahm warf er einen prüfenden Blick durch den Türspion.
Vorsichtig drehte er den Schlüssel und öffnete das Schloss. Es klickte unmerklich. Danach drückte er die Türklinke nach unten und öffnete die Türe einen Spalt breit. Im Treppenhaus war es ruhig und düster. Die Lampe, die über ihm an der Decke des Treppenhauses hing, war ausgeschaltet. Die Wohnungstüre seines Nachbarn lag in etwa drei Meter Luftlinie direkt gegenüber. Langsam setzte er einen Fuss auf den grauen Steinboden des Treppenhauses, beugte sich nach vorne und klopfte leise an die Wohnungstüre seines Nachbarn. Er hörte in dessen Wohnung Fussschritte näherkommen. Die Türe wurde geöffnet und ein junger Mann mit wilder Frisur erschien im Türrahmen. Er trug bloss schwarze Boxershorts. Das Kabel seines Kopfhörers schlängelte sich seinem durchtrainierten und Sonnenbank gebräunten Körper entlang. Auf der linken Brust prangte ein grosses Tattoo eines Löwenkopfes, mit gefährlich aufgerissenem Mund und scharfen Zähnen. Um den Hals trug er eine goldene Kette mit einem dezenten Kreuz als Anhänger. Als er Liam erblickte zog er den linken Stöpsel seines Kopfhörers aus dem Ohr. Liam musterte ihn und verfolgte ungläubig das Kopfhörerkabel, welches in seiner Boxershorts verschwand. Er fragte sich zugleich, ob es wirklich bequem sein konnte, seinen Ipod in der Unterwäsche herum zu tragen.
“Guten Morgen Liam. Du siehst beschissen aus. Wie kann ich dir helfen?”, fragte sein Nachbar mit sarkastischem Unterton. Liam warf einen prüfenden Blick nach links in Richtung des Fahrstuhls. Der Nachbar tat es ihm gleich, ehe er ihn fragend ansah. Liam schüttelte eifrig mit dem Kopf, bevor dieser eine weitere Frage stellen konnte.
“Darf ich mir deinen Wagen ausleihen?”, fragte er beinahe flüsternd.
“Selbstverständlich”, antwortete der Nachbar, ohne die Lautstärke seiner Stimme auf den Flüsterton anzupassen und drehte sich zur Seite. Liam sah, wie er den Autoschlüssel von einem Nagel an der Wand entfernte. Nun wedelte er mit dem Schlüssel wild durch die Luft.
“Ich hoffe du bringst ihn mir unversehrt zurück. Er steht unten in der Garage. Ich habe bereits die Winterreifen montiert, falls du damit in die Berge willst” meinte er mit einem künstlich ernsten Unterton und einem breiten Grinsen.
“Natürlich”, antwortete Liam trocken, als er den Autoschlüssel entgegennahm. Er war froh, dass der Nachbar seinen Schlüssel nicht auch in den Boxershorts herum trug.
Er schloss die Wohnungstüre ab und ging zurück ins Schlafzimmer, um Lena klar zu machen, dass sie schnellstmöglich von hier verschwinden mussten. Glücklicherweise konnten sie mit dem Fahrstuhl die Garage direkt erreichen, ohne dazu das Haus verlassen zu müssen. Er ging noch immer davon aus, dass der Hauseingang von irgendwelchen Auftragskillern überwacht wurde. Lena trottete verschlafen durch den Flur ins Badezimmer und verschloss die Türe hinter sich. Liam verwarf genervt seine Hände in der Luft. Es war immer dasselbe mit den Frauen. Selbst wenn die Wohnung in Flammen gestanden hätte, die Frisur musste sitzen, bevor das Haus verlassen werden konnte.
Ungeduldig ging er im Flur auf und ab. Als Lena ihre Frisur gerichtet hatte verliessen sie, zielstrebig und ohne die Wohnungstüre hinter sich zu verriegeln, die Wohnung. Mit dem Fahrstuhl fuhren sie ins Untergeschoss, wo sich neben dem Keller auch die Garage befand.
Der silberne Hyundai Tucson stand rückwärts eingeparkt, bereit zur Flucht. Liam befahl Lena, sich auf die Rückbank zu setzen, damit sie nicht gesehen werden konnte. Die Scheiben im hinteren Teil des Wagens waren abgedunkelt. Er startete den Motor, drückte vorsichtig auf das Gaspedal und verliess unauffällig die Garage, welche hinter dem Haus auf eine Nebenstrasse führte.
Das miese Wetter spielte ihnen glücklicherweise in die Karten. Dank des Regens war die Sicht etwas beeinträchtigt und sollte der Auftragskiller tatsächlich den Wagen im Visier gehabt haben, so hätte er ihn hinter dem Lenkrad nur schwer identifizieren können.
Liam fuhr Richtung Stadtzentrum. In die Innenstadt waren es rund fünfzehn Kilometer. Er hoffte, dass er dort in der Menschenmasse untertauchen könnte. Noch immer war er planlos. Er war einfach nur froh, weg von der Gefahrenzone zu sein.
‘ Wie würde die Polizei wohl vorgehen?’ fragte er sich.
“Ich brauche eine Schussweste und eine neun Millimeter”, sagte Liam zu sich selbst. In diesem Moment klingelte Lenas Telefon.
“Es ist Kevin”, sagte sie nach einem kurzen Blick aufs Display werfend.
“Ich will mit ihm sprechen”, sagte Liam unverzüglich. Sie hob ab und hielt sich das Telefon ans Ohr. Liam riss es ihr aus der Hand und presste es an sein Ohr. Seine Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Mit einer Hand lenkte er den Wagen, der auf der nassen Fahrbahn leicht ins Schlingern kam. Er konnte sich kaum noch auf die Strasse konzentrieren.
“Wo zum Teufel ist mein Sohn?”, brüllte er in den Hörer.
“Oh, ich glaube ich bin ein Medium”, provozierte Kevin, “ich glaube ich spreche gerade mit einem Toten.”
“Du bist ja ein richtiger Spassvogel”, schrie Liam ausser sich vor Wut “sag mir, wo du bist.”
“Ich bin weit weg. In einer anderen Dimension. Dein Sohn nennt mich jetzt Papa. Hast du gewusst, dass er heute Geburtstag hat? Willst du ihm nicht gratulieren?”, fragte Kevin mit einem frechen Unterton.
“Heute ist nicht sein Geburtstag, du Bastard. Wenn du sein Vater wärst, dann wüsstest du das auch”, schnauzte ihn Liam an, “ich werde dich jagen und finden. Lebendig oder tot”, drohte er ihm.
“Aber natürlich. Ich werde vielleicht auf dich warten”, antwortete Kevin gelassen.
In diesem Moment brach die Verbindung ab. Liam schleuderte das Telefon wütend auf den Beifahrersitz. Mit hohem Tempo brauste er in Richtung Innenstadt. Seine Hände zitterten vor Wut.
“Und diesen widerwärtigen Unmensch liebst du, verdammt?”, schrie er durch den Wagen.
“Konzentriere dich auf die Strasse, Liam!”, schrie Lena zurück. Sie kreischte laut und duckte sich hinter die Lehne des Beifahrersitzes. Liam kriegte sich nur langsam wieder ein und verlangsamte schliesslich das Fahrzeug. Das Adrenalin liess ihn die Kontrolle über seinen Körper verlieren. Immer wenn er sich über etwas aufregte, während er am Lenkrad eines Fahrzeuges sass, neigte er dazu, das Gaspedal durchzudrücken. Es war eine seiner schlimmsten Angewohnheiten. Ein übler Makel, welcher ihm immer erst im Nachhinein bewusst wurde. Vor allem wenn Bernard bei ihm im Fahrzeug sass, dann wurden solche Aussetzer zur Lebensgefahr, auch wenn sie nur wenige Minuten andauerten. Es gab schon ein paar solcher Aussetzer in der Vergangenheit. Meist reichte es aus, wenn sich ein Verkehrsteilnehmer nicht an die Regeln hielt oder ihn provozierte. Dann liess er sich zu gefährlichen Manövern verleiten und vergass seine Mitinsassen und die möglichen Konsequenzen. Glücklicherweise kam er bisher immer mit einem blauen Auge davon. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis er sich das nächste Mal in einer ähnlichen Situation wiederfinden würde, und das war ihm bewusst.
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