Die Entführung
Liam hatte noch nie zuvor einen solch panischen Gesichtsausdruck gesehen, wie ihn seine Frau in jenem Moment aufgesetzt hatte. Lena war eine starke Persönlichkeit. Sie wusste was sie wollte und sie liess sich kaum einschüchtern. Auch wenn sie einen Kopf kleiner war als Liam konnte sie ihn mit Karate locker zu Boden ringen. Sie lernte diese Kampfsportart in ihrer Jugendzeit von ihrem Vater, der inzwischen den schwarzen Gürtel besass. Er wollte ihr beibringen, wie sie sich gegen körperliche Angriffe zur Wehr setzen konnte. Es war eine Zeit, in welcher es in den Nachtclubs häufig zu Schlägereien und sexuellen Übergriffen kam. Manchmal setzte sie es auch spasseshalber gegen Liam ein, der nach kürzester Zeit mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden lag. Nicht selten traf sie ihn ungewollt in seine Weichteile, was zu üblen Unterleibsschmerzen führte.
Doch nun sah es nicht so aus als mache sie Witze und er wusste, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.
“Was ist passiert?”, fragte er eifrig, nachdem er beinahe rückwärts über die erste Stufe der Treppe gestolpert war. Lena kam näher und umarmte ihn ungefragt.
“Wir brauchen deine Hilfe”, sagte sie verzweifelt. Liam war überrascht. Er hatte ihre Umarmung nicht erwidert, sondern stand wie ein Fels im Treppenhaus, die Arme an die Seite seines Körpers gedrückt und den Kopf leicht zur Seite gedreht, wo er seinen Sohn erblickte, der ihn unentwegt anstarrte. Bisher suchte sie bei Problemen jeweils die Hilfe der Familie. Ihr Vater war Gefängnispsychiater für Schwerverbrecher, Menschen mit gespaltenen Persönlichkeiten und Suchtpatienten. Ihre Mutter arbeitete als Krankenschwester im Universitätsspital. Er jedoch war nur ein kaltherziger, egoistischer und verschuldeter Banker. Zumindest wenn man Lenas Worten Glauben schenken wollte. Ihre Eltern wohnten bloss einen Steinwurf von seiner Wohnung entfernt. In einem schönen, grossen Einfamilienhaus. Trotzdem stand sie mit ihrem gemeinsamen Sohn Bernard nun in seinem Treppenhaus. Zusammen fuhren sie mit dem engen Fahrstuhl ins vierte Stockwerk und betraten die Wohnung. Seit der Trennung hatte er seinen Haushalt etwas vernachlässigt, doch Lena schien sich daran nicht zu stören. Sie sah aus, als wäre sie erleichtert darüber, wieder in der ehemaligen Wohnung zu sein. Bernard, der seinen Vater bisher an jedem zweiten Wochenende besucht hatte, zog wortlos seine Jacke aus und hängte sie an den Haken, den ihm Liam auf dessen Höhe an die Wand geschraubt hatte. Danach zog er sich die Schuhe aus, stellte sie auf das Schuhmöbel im Flur, holte seine Spielkiste aus dem Spielzimmer und verzog sich damit in sein Kinderzimmer. Liam schaute ihm misstrauisch hinterher während er ein paar schmutzige Klamotten vom Fussboden aufhob. Er merkte sofort, dass Bernard unter einem gewissen Umstand litt, doch er konnte die Situation noch nicht richtig einschätzen. Bernard war sonst ein aktives Kind, das für sein Alter bereits über einen ausgeprägten Wortschatz verfügte und sich auszudrücken vermochte, wenn es Probleme hatte. So wie jetzt verhielt er sich nur wenn er an Fieber litt und krank war.
Lena, die Frau die er in den letzten Monaten so schmerzlich vermisst hatte, stand plötzlich vor ihm und bat ihn um Hilfe. Früher musste ihr Liam jeweils einen Maulkorb verpassen, damit das ewige Gerede ein Ende nahm und nun stand sie neben ihm und schwieg. Ihr Gesicht war farblos. Die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Eingepackt in einer dicken, schwarzen Daunenjacke wirkte sie wie ein kleines, unschuldiges Mädchen. Liam selbst war völlig irritiert und mit der ganzen Situation komplett überfordert. Er hätte an diesem Abend so ziemlich alles erwartet, aber mit ihr hätte er nicht im Traum gerechnet. Er machte eine kurze Handbewegung zum Wohnzimmer, während er die Jacke auszog und den Schal löste. Von der Wohnungstüre her ging es durch einen schmalen Flur, auf welchem sich links drei Zimmer und rechts zwei Badezimmer befanden. Direkt hinter der Wohnungstüre Bernards Spielzimmer, welches mit Spielsachen vollgestopft war. In der Mitte Bernards Schlafzimmer mit dem Jugendbett, dem Kleiderschrank und dem Wickeltisch sowie das grössere Zimmer mit dem Ehebett, in welchem er sich seit der Trennung so alleine und einsam fühlte. Am Ende des Flurs erstreckte sich links das Wohnzimmer und rechts das Esszimmer. Eigentlich war es ein einziger, grosser Raum. Doch der Fussboden im Wohnzimmer war mit Parkettbelag und der des Esszimmers mit Keramikplatten ausgelegt. Die schwarze Ledercouch im Wohnzimmer bildete die hintere Ecke. Davor stand ein kleines, rundes Tischchen mit einer Glasplatte auf einem grossen, weissen Teppich. An der Wand gegenüber, direkt neben dem Fenster, hing ein Flachbildfernseher, den er seit Monaten nicht mehr eingeschaltet hatte. Darunter stand ein rechteckiges Möbel, in welchem Liam seine DVDs verstaute. Das Esszimmer bot Platz für einen rechteckigen Holztisch und vier schwarzen Lederstühlen. Eine Lampe mit drei Leuchten hing tief darüber und erhellte den Raum. Dahinter befand sich eine kleine, moderne Küche. Liam war ein grauenhafter Koch und die Küche sah aus, als wäre sie seit langem nicht mehr benutzt worden. Dafür stapelten sich ein Dutzend leerer Pizzaschachteln eines Lieferdienstes in der Ecke. Vom Esstisch her sah man direkt auf die kleine Terrasse. Dort stand ein Sessel aus Rattan mit weichen Kissen zwischen zwei kleinen Palmen und verlieh ihr einen Hauch von Urlaubsstimmung. Zumindest wenn die Sonne auf die Terrasse schien.
Liam trank einen kräftigen Schluck Eistee und stellte die Flasche in den Kühlschrank. Danach setzte er sich auf die Couch und wartete auf eine Reaktion seiner Frau. Seit sie ihn im Treppenhaus umarmte hatte sie kein einziges Wort mehr gesagt. Sie stand mittlerweile hinter einem der Stühle am Esstisch und starrte wortlos auf den Bildschirm seines Computers. Im Kinderzimmer hörte er seinen Sohn mit den Spielzeugautos spielen. Der Regen prasselte wieder stärker gegen die Fensterscheibe.
Plötzlich klingelte es an der Wohnungstüre. Lena zuckte zusammen, setzte sich auf den Stuhl vor dem Computer und deutete Liam wild gestikulierend an, sitzen zu bleiben. Wieder klingelte es an der Türe. Diesmal mehrmals hintereinander. Liam blickte zu Lena und sah eine Träne über ihre Wange kullern. Einen Moment lang wurde es still. Liam erhob sich aus der Couch und löschte sämtliche Lichter in der Wohnung. Obwohl sie im vierten Stockwerk waren hätte man das Licht von draussen her gesehen. Die Besucherparkplätze befanden sich direkt unter seinem Wohnzimmerfenster. Langsam verstand Liam den Ernst der Lage, auch wenn er noch keine Details der Geschichte kannte. Der Gesichtsausdruck seiner Frau sprach Bände. Er hatte sie noch nie derart verängstigt erlebt. Regungslos sass sie auf dem Stuhl und starrte auf den Bildschirm.
“Er will ihn holen und dich töten”, murmelte Lena plötzlich und ohne ihren Blick vom Bildschirm zu lösen.
“Was?”, fragte Liam ungläubig. Er stand im dunklen Flur und schaute nach rechts zum Esszimmer. Der Bildschirm war nun die einzige Lichtquelle in der Wohnung. Er sah nur noch die Umrisse ihres Kopfes, welcher über der Stuhllehne hervor lugte.
“Wer?”, fragte Liam weiter, “wer will mich töten?”
Es klang so surreal und trotzdem spürte er, wie sein Puls schlagartig in die Höhe getrieben wurde. Einerseits war da Lena, die noch vor ein paar Tagen gesagt hatte, dass sie über ihn hinweg sei und ein neues Leben begonnen habe. Und andererseits das mysteriöse Klingeln an der Haustüre sowie die Tränen in Lenas Gesicht.
“Was sollen wir jetzt tun? Die Polizei rufen?” fragte Liam schockiert.
“Nein” sagte Lena. Nun löste sie endlich den Blick vom Bildschirm. Liam sah ihre funkelnden Augen als sie den Kopf zu ihm umdrehte. Es war eine Mischung aus Angst und Panik. Eine Träne glitzerte auf ihrer Wange.
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