„Wir haben seit geraumer Zeit nicht mehr so lange gefochten“, stellte Herbomir fest und fügte anerkennend hinzu, „und ich hätte nicht mehr lange gegen dich bestehen können.“
„Trotzdem hast du es und ich habe versagt“, gab Brenon verbittert zurück und hob seine Waffe auf.
„Gräme dich nicht wegen eines einzigen Augenblicks, den ich dir überlegen war. Viel mehr wiegen alle anderen, in denen wir uns die Waage gehalten haben!“, stellte Herbomir fest.
Brenon bewunderte den Ritter für dessen unerschütterliche Zuversicht. Herbomir schien zeitweilen wie ein Fels in der Brandung, den nichts von seinem vertrauensvollen Blick auf die Dinge abbringen konnte. Nach seiner Zeit im Kriegsdienst unter König Arkil und Egrodt von Asyc hatte Herbomir sich dem Studium einer Vielzahl von Lehren hingegeben, welche ansonsten nur den Mitgliedern der Akademie oder den Ordensmönchen bekannt waren.
Kaum ein Ritter zählte geistliche Bildung zu seinen Tugenden. Doch Herbomir hatte sich einen schier unerschöpflichen Quell an Wissen über die Glaubens- und Denkenswege angeeignet, welche in den Schriftstuben des Reiches lagerten. Anstatt sich jedoch ganz und gar einer Gotteslehre zu verschreiben und nach den Geboten einer Religion zu leben, nahm er sich aus sämtlichen Strömungen nur die Perlen an Weisheit heraus, welche ihm in seiner Lebenslage gerade am nützlichsten erschienen.
Selbst auf den Schwertkampf ließen sich eine Vielzahl von Denk- und Betrachtungsweisen anwenden, welche ihren gewohnten Platz in Liturgie und Gebet fanden.
„Was habe ich falsch gemacht?“, fragte Brenon. Sie gingen durch eine der Stallungen hindurch zurück auf die Hauptstraße und machten sich auf den Weg zurück in den inneren Kreis. Es war früh am Nachmittag und wie an den Tagen zuvor herrschten sommerliche Temperaturen. Das Leben auf den Straßen von Tir’dahall hatte zu seinem gewohnten Trott zurückgefunden und ein fremder Reisender hätte glauben können, dass sich nichts in der Stadt verändert hatte.
Einzig die Ritter, welche meist in voller Rüstung, mit Waffen am Gürtel und stolzem Antlitz herumwanderten, gaben einen ungewöhnlichen Anblick zwischen den Bürgern ab. Wer das Gesicht der Stadt kannte, bemerkte auch, dass weitaus weniger Elben in den Straßen unterwegs waren als noch vor zwei Wochen, doch nichts zeugte mehr von der blutigen Einnahme Tir’dahalls.
„Wie ich bereits sagte, hast du nur einen Augenblick unbedacht gehandelt“, erklärte Herbomir, „als du dich nämlich gerade aus deiner üblen Lage befreit hattest. Irgendein Übermut hat dich dazu verleitet, mich anzugreifen, ohne dass ich mir eine Blöße gegeben hätte. Eine Stunde lang hast du darauf gewartet, warum konntest du nicht noch einen Moment warten?“
„Weil mich der Augenblick des Triumphes kopflos handeln ließ“, gab Brenon zu. „Nachdem ich mich frei gerungen hatte, wähnte ich mich fälschlicherweise in der Übermacht.“
Herbomir lächelte zufrieden und knüpfte seinen zinnoberfarbenen Umhang vor der Brust wieder zusammen, den er zum Kampf abgelegt hatte. „Warum fragst du mich, woran du gescheitert bist, obwohl du die Antwort längst kennst?“
Brenon wusste darauf keine Antwort zu geben, erkannte er doch nur eine weitere Angewohnheit bei Herbomir wieder, nämlich dem Fragenden seine Frage zurückzustellen.
„Geduld ist die wahre Stärke eines großen Kriegers, vergiss das nicht“, setzte Herbomir seine Lektion fort, „denn bald wirst du Gegnern gegenüberstehen, welche diese Weisheit schon vor langer Zeit lernen mussten.“
Als sie gerade durch einen Torbogen schritten, welcher den Eingang in die oberen Ebenen der Stadt markierte, kam einer der Ritter zu ihnen geeilt, die mit ihnen die Stadt eingenommen hatten. Es war ein Mann mittleren Alters, unscheinbar und kaum prächtiger gekleidet als ein gewöhnlicher Soldat. Er nahm Haltung vor Brenon an, als würde er einem Befehlshaber gegenübertreten und vermeldete: „Mein Herr, ich darf berichten, dass der Primus der Palastgarde wünscht, sobald als möglich aufzubrechen!“ Etwas verwirrt von der unterwürfigen Art des Ritters nickte Brenon bloß und bedankte sich für die Nachricht, woraufhin der Mann ebenso raschen Schrittes wieder verschwand.
„Habe ich gerade mit einem Edelmann gesprochen oder mit einem Soldaten?“, fragte Brenon seinen Gefährten erstaunt.
„Nun, du magst es noch nicht erkannt haben“, bemerkte Herbomir schmunzelnd, „doch diese Männer sehen in dir nicht nur ihren Anführer sondern gleichermaßen einen ihren General. Du hast etwas, das diese Männer antreibt und sie tatsächlich zu deinen Soldaten macht. Du strahlst für sie eine Hoffnung und einen Willen aus, den niemand sonst derart in ihre Herzen pflanzen könnte.“
„Was erwarten sie von mir? Und warum solltest nicht auch du diese Fähigkeit besitzen?“, fragte Brenon trotzig zurück, als hätte Herbomir ihm soeben ein besonders schweres Los zugesprochen.
Doch dieser lachte bloß auf und sagte dann: „Ich habe meine Chance gehabt, aber das ist in alten Tagen gewesen. Was es bei dir ist… ich weiß es nicht, darüber muss ich noch etwas nachdenken. Ich glaube tatsächlich, dass sie in dir den Anführer sehen, der sie leitet, wo es sonst niemanden mehr gibt, der stark genug dazu wäre.“
Sie erreichten einen gepflasterten Platz, auf dem bis vor Kurzem die Kutschen der Edelleute Halt gemacht hatten, welche Tir’dahall bereisten. Nun war die Fläche umfunktioniert worden und wo vorher die Reichen und Mächtigen aus ihren Wagen in die Türme begleitet worden waren, wurden nun Rösser gesattelt und zur Schlacht gerüstet.
„Meine Zustimmung scheint Esefo recht schnell erreicht zu haben, wenn er schon jetzt aufzäumen lässt“, stellte Brenon ironisch fest.
„Gib Acht, dass er dir nicht die Zügel aus der Hand nimmt!“, gab Herbomir zu bedenken, „denke daran, wohin Übermut dich im heutigen Gefecht brachte. Nur weil wir diese Stadt nehmen konnten, haben wir nicht die Macht, auch Albenbrück ohne Verluste zu überrennen.“
Brenon nickte und beobachtete die Knappen, wie sie die stolzen Pferde mit Sattel und Rüstzeug bespannten. Dann sagte er: „Doch bin ich mir sicher darüber, dass der richtige Augenblick gekommen ist. Was unsere Stärke ist, hat sich im Rat als Schwäche entpuppt. Sie haben niemanden, der sie eint. Sie sind im Zwist miteinander und so wird es auch bleiben.“
Herbomir verschränkte die Arme und hob eine Augenbraue: „Wie kannst du dir darüber so sicher sein? Warst du selbst in den Hallen des Elbenrates und hast ihr Hadern mit eigenen Ohren vernommen?“
Brenon wandte seinen Blick wieder ab, denn auf einmal überkam ihn Unsicherheit. Er wusste nicht, was er entgegnen sollte, denn die Wahrheit über seine Beweggründe würden Herbomir nicht überzeugen, darüber war er sich sicher. Vielmehr noch, der alte Ritter würde ihn tadeln oder verhöhnen ob der Quelle, woraus seine Überzeugung speiste.
„Verlass dich nicht auf die Berichte anderer!“, meinte Herbomir streng, „du weißt, wie sich das Antlitz einer Botschaft wandelt, wenn es erst über viele Lippen gegangen ist. Wer erklärte dir die Lage im Rat?“
„Ich träumte es“, platzte es auf einmal aus Brenon heraus. Er ertrug die belehrende Stimme des Ritters nicht mehr. Noch vor wenigen Augenblicken hatte dieser ihn als den unbestrittenen Anführer der Bruderschaft gelobt, nun aber fühlte er sich vielmehr wie ein Novize, der seine Lektion nicht gelernt hatte.
„Du hast…“, Herbomir starrte ihn fassungslos an, „du hast es geträumt?“ Seine Stimme war lauter geworden und für einen Moment schien er die Fassung verloren zu haben.
„Kein Traum, wie man ihn in einer ruhigen Nacht träumt!“, gab Brenon aufgebracht zurück, „manche würden sagen, es war eine Vision! Die Stimme, die mir all dies berichtete, kann nicht Spross meiner Fantasie sein! Zu viel Wahrheit lag in den Worten! Wenn ich nicht wüsste, dass dir der Glaube an die Kräfte fehlt, welche jenseits unseres Bewusstseins walten, dann würde ich sagen: es war die Stimme der Götter, die mir den Auftrag gab.“
Читать дальше