Zielstrebig ging sie an ihm vorbei durch die Tür hinaus und trug die Taschen zu den Pferden, um sie an den Satteln zu befestigen. Galeon schaute Aldrĭn fragend an. Er warf seinem Sohn einen aufmunternden Blick zu und der Junge schien sofort ein wenig zuversichtlicher.
„Mutter sagt, dass wir nach Albenbrück reiten“, meinte Galeon sichtlich aufgeregt. Aldrĭn musterte ihn, dann musste er darüber schmunzeln, wir sehr der Knabe offenbar in Vorfreude über ihre Reise war.
„Ja, das werden wir“, bestätigte Aldrĭn, „wir reiten nach Albenbrück.“ Nachdenklich beobachtete er, wie Galeon strahlend seinen leinenen Reisesack schulterte und dann ebenfalls zu den Pferden stapfte. Solange, wie er sich auf die Stadt freute, würden die Sorgen um seine Schwester vielleicht vergessen sein.
An einem Haken hinter der Küchentür hing ein schwarzer Kapuzenumhang aus Vadmal, den Aldrĭn im vergangenen Winter aus der Wolle seiner Schafe gewalkt hatte. Der Stoff war grob und schwer, doch er schützte vor Regen und der Kälte der Nacht. Es würde zusammen mit Galyndúr das einzige Gepäck sein, das er mitnahm.
Nachdem er sich den Umhang übergeworfen hatte, öffnete er noch einmal die schwere Truhe im Schlafzimmer und nahm so lange Hände voll Goldstücke heraus, bis der Beutel an seinem Gürtel wieder bis oben hin gefüllt war. Dann schloss er die Truhe und legte eine Decke darüber. Wenn tatsächlich jemand in ihrer Abwesenheit in die Kate eindrang, dann würde es ihn wohl kaum abhalten.
Juliana saß bereits auf dem Fuchs, den sie zusammen mit dem Rappen auf die Straße geführt hatte, und Galeon hatte vor ihr auf dem ausladenden Sattel Platz genommen. Aldrĭn sah hinüber zum Nachbarsgrundstück, doch Atli Puk war verschwunden, als er Aldrĭn mit den Pferden hatte zurückkehren sehen. Nachdem er seine Pflicht getan hatte, waren ihm die Ereignisse des Tages offenbar zu viel geworden und Aldrĭn hatte vollstes Verständnis für die Scheu des Elben.
Er schloss das Gatter des Gartenzauns hinter sich und stellte fest, was für ein sonderbarer Anblick die beiden Häuser abgaben, wenn sie derart verlassen und unbelebt dastanden. Immer war irgendjemand im Garten oder hinter den Fenstern der Kate zu sehen, geschäftig seinem Tagwerk nachgehend. Und an jedem strahlenden Sonnentag, wie der heutige einer war, saß ein kleiner Elb auf seiner Veranda und ließ vergnügt die Beine baumeln. Nicht so heute.
Er schwang sich auf das schwarze Ross und schnalzte, alsbald setzte sich das Tier träge in Bewegung, als würde es ahnen, dass ein langer Weg vor ihm lag. Dann trabten die beiden Pferde los in Richtung der Berge im Osten und verschwanden bald im aufgewirbelten Staub am Horizont.
Brenon legte seine Hände bedächtig auf den weißen Kalkstein, der wie eine schützende Mauer das Geländer der Balustrade bildete, auf der er stand und in die Ferne blickte. Er war zum ersten Mal die Wendeltreppe hinaufgestiegen, die ganz nach oben auf den höchsten Turm der Schlossanlage führte. Dieser bildete das Zentrum der Festung Tir’dahall und von hier aus konnte er nicht nur die ganze Stadt, sondern auch das ganze Land Redencia überblicken, das ihm nun mit seinen endlosen Horizonten zu Füßen lag.
Während Tir’dahall weithin von unberührten Wiesen und Auen umgeben war, kündeten Siedlungen im Westen von der Grenze zu Sydgondia. Richtete Brenon seinen Blick nach Osten, so konnte er am blauen Schimmer, der den Horizont einfärbte, das weite Meer erahnen. Irgendwo in jener Richtung musste die berühmte Hafenstadt Seehan liegen, von der aus die königlichen Truppen einst gegen Egrodt von Asyc gezogen waren. All jene legendären Orte der Vergangenheit kannte Brenon nur aus den Berichten, welche Jahre später von den Schreibern und Gelehrten aufgezeichnet und in den Bibliotheken verwahrt worden waren. Wenn sich jedoch weiterhin alles derart nach seinem Plan entwickelte, so würden ihm bald die Muße und die Möglichkeiten zufallen, diese Städte zu besuchen, in denen vielleicht noch der Geist einer vergangenen Epoche schlummerte.
Eine dieser Stätten war Tir’dahall, die Hauptstadt von Redencia und Thronsitz des Grafen von Jalúa. Unter anderen Umständen wäre Jalúa vielleicht auch einer der Männer geworden, um deren Gunst Brenon gebuhlt hätte, schließlich war er der einzige Überlebende des alten Rates. Doch Brenon hatte die Annalen des Landes in aller Sorgfalt studiert und war schließlich zur Überzeugung gelangt, dass der Herr von Redencia nichts als ein feiger Opportunist war. Schon zu Kriegszeiten hatte er es verstanden, sich immer auf die Seite des stärksten Souveränen zu schlagen und als der Elbenrat eingesetzt wurde, sah Jalúa seine Gelegenheit gekommen, sich in die mächtigste Position des Reiches aufzuschwingen. Und dort befand er sich nun, als Konsul und erster Ratsherr der Kammer. Deshalb hatte Brenon auch keinen Augenblick mit seinem Gewissen ringen müssen, als er den Befehl gegeben hatte, die Stadt des Grafen einzunehmen.
Tir’dahall war ein Schmelztiegel des Abschaums geworden. Obwohl es, wie alle anderen Städte des Südens, erst Monate später als der Norden für die Elben geöffnet worden war, hatte Jalúa dafür gesorgt, dass es wie kaum an einem anderen Ort zu einer Vermischung von elbischer und menschlicher Bevölkerung gekommen war. Die Elben waren scharenweise in die Stadt gezogen und hatten sich die menschliche Lebensweise angeeignet.
Zuletzt hatte man in der Turmstadt einen vom alten Volk gesehen, als der letzte Krieg ausgebrochen war. Doch Marius von Jalúa war es gelungen, die Bürger von Tir’dahall mit den Elben zu verbrüdern, wie es kaum einem der anderen Stadtherren im Reich gelungen war. Das Volk liebte den Grafen, sowohl Menschen wie auch Elben. Er selbst hingegen zog aus dem zweifelhaften Bündnis vor allem Vorteile, was die Sicherung seiner Machtposition auf dem Thron anbelangte. Denn im Gegenzug für seine Vermischungspolitik wurde er vom Elbenrat prompt an dessen Spitze gesetzt. Jalúa war eben ein Mitläufer und er würde es immer bleiben. Ein strategisch denkender, zugegebenermaßen, aber doch nur ein Mitläufer.
Brenon schaute in den Norden des Landes. Während die Wiesen zu Füßen der Stadt in saftigem Grün erstrahlten, erstreckte sich nur zwanzig Meilen nördlich ein dunkler Nadelwald über den Horizont. Dieser war so tief und mächtig in seiner Größe, dass er bis zu den Bergen reichte, welche die Warge im Süden einrahmten. Den Gebirgszug konnte man von Tir’dahall bloß noch erahnen. Doch als Brenon mit nachdenklichem Blick gen Norden spähte, stellte er sich vor, dass irgendwo dort in der Ferne sein nächstes Ziel lag. Die Hauptstadt Albenbrück.
Das Knarren der schweren Holztür hinter ihm riss ihn aus seinen Gedanken und ein Mann im roten Gewand trat an Brenons Seite. Es war Herbomir von Astarwisch. Brenon musterte den Mann, der ihm seit siebzehn Jahren wie ein Vater war. Meist konnte er dem Gesicht des alten Ritters ablesen, ob er gute oder schlechte Neuigkeiten brachte, jetzt aber wahrte Herbomir einen gleichgültigen Ausdruck.
„Keine üble Aussicht, was?“, bemerkte Herbomir und Brenon entspannte sich innerlich, denn allzu üble Nachricht konnte es offenbar nicht sein.
„Ein guter Tag, um zu reisen, würde ich meinen“, sagte Brenon.
„Zwei große Kohorten stehen bereit“, erklärte Herbomir, „das sind je dreißig berittene Mann. Seitdem wir die Stadt genommen haben, kommen immer wieder Ritter aus dem Umland, die sich unserer Sache anschließen wollen. Der Widerhall unseres Erfolges entpuppt sich als noch wirkungsvoller, als wir es uns hätten träumen lassen.“
„Das ist gut“, urteilte Brenon zufrieden, „ich stehe in deiner Schuld für die Aufstellung der Truppe.“
„Nicht in meiner“, gab Herbomir schmunzelnd zurück, „bedank dich bei unserem neuen Freund.“ „Gorakon Esefo?“, fragte Brenon ungläubig.
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