Juliana starrte den Mann mit gefletschten Zähnen und verzerrtem Gesichtsausdruck an. Aldrĭn erschrak, als er sie so sah und legte seine Hand beruhigend auf ihre, welche noch immer den Degen fest umklammerte. Beschwichtigend suchte er ihren Blick, sie erwiderte ihn mit einem verstörten wie angstvollen Ausdruck. Als sie den Griff endlich losließ, zog Aldrĭn das Eisen mit einem kraftvollen Ruck aus dem Toten und wandte sich dann wieder der Kutsche zu. Er sah gerade, wie die Tür zugeschlagen wurde und sich der Entführer seiner Tochter auf den Kutschbock schwang.
Der andere Mann stieg eilig auf eines der beiden freien Pferde und wollte gerade abreiten, da warf er Aldrĭn einen letzten Blick zu und dieser erkannte ihn auf einmal. In den weißen, weiten Umhang gekleidet, darunter die abgenutzte Rüstung tragend, erblickte er Halldor Granciël, den ehrlosen Raubritter. Als Halldor sich seiner gewahr wurde, grinste er triumphierend und gab dann seinem Pferd die Sporen.
In diesem Augenblick knallte auch die Peitsche des Kutschers und das hölzerne Fuhrwerk setzte sich in Bewegung. Sofort stürzte Aldrĭn hinterher und schwang sich auf das verbliebene Pferd. Es mussten Jahre vergangen sein, seit er zum letzten Mal geritten war, doch sofort war ihm das Gefühl auf dem Ross wieder vertraut. Die Hacke warf er von sich, den Degen jedoch behielt er fest umklammert in der Rechten, während die linke Hand die Zügel ergriff. Entschlossen galoppierte er hinter den flüchtenden Entführern hinterher. Diese ritten geradewegs davon in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Noch hatten sie einige Dutzend Schritt an Vorsprung, doch die Kutsche, nur von einem Pferd gezogen, konnte Aldrĭns Gaul im Galopp nicht abhängen. Halldor ritt unmittelbar dahinter und schaute sich immer wieder verstohlen nach seinem Verfolger um, der ihm immer näher kam. Aldrĭn hoffte, dass Rovinja nicht versuchte, aus der fahrenden Kutsche zu springen, denn Halldor würde sie kurzerhand überreiten und die beschlagenen Hufe konnten zu tödlichen Mahlsteinen werden. Aldrĭns Herz klopfte wild und er machte sich auf einen Kampf zu Pferd bereit. Halldor würde versuchen, ihn zu Fall zu bringen, bevor er in die Nähe der Kutsche gelangte. Er aber würde ihn genauso richten wie seine getöteten Handlanger und dann das Fuhrwerk zum Stehen bringen.
Nur noch eine Pferdelänge lag jetzt zwischen ihm und dem Ritter. Die Räder der Kutsche wirbelten Staub und Steinchen auf, die Aldrĭn entgegenschossen, während die Landschaft an ihnen förmlich vorbeiflog. Im nächsten Augenblick würde er seinen Feind einholen! Aldrĭn holte aus, um den Degen nach Halldors ungeschütztem Haupt zu stoßen.
Doch da tat dieser etwas Unerwartetes. Aus einer Satteltasche zog er einen kleinen hölzernen Gegenstand, dann noch einen und dann ließ er die Zügel für einen Atemzug los, um die beiden Teile auf seinem Sattel zusammenzufügen. Als Aldrĭn begriff, was Halldor dort im Verborgenen tat, war es zu spät. Er wollte gerade die Zügel herumreißen, um auszuweichen, da drehte der Ritter sich um und richtete eine kleine Armbrust- gerade groß genug, um sie mit einer Hand zu halten- auf seinen Verfolger.
Er drückte den Abzug und die Sehne schnalzte los. Der filigrane Bolzen zischte durch die Luft in Aldrĭns Richtung, verfehlte ihn aber. Halldor hatte sein Ziel nichtsdestotrotz getroffen, denn im nächsten Moment wieherte Aldrĭns Pferd erschrocken auf und brach auf der Stelle zusammen.
Aldrĭn flog im hohen Bogen herunter, ließ den Degen fallen und riss die Arme schützend vor sein Gesicht. Sein ganzer Körper erbebte, als er mit hohem Tempo aufschlug. Die spitzen Steine des Feldweges bohrten sich in seine Arme und er rutschte noch ein ganzes Stück über den Boden, ehe er liegen blieb. Kurz wurde ihm schwarz vor Augen und als er seinen Kopf wieder aufzurichten vermochte, sah er gerade noch, wie Kutsche und Reiter hinter der nächsten Hügelkuppe verschwanden. Er rappelte sich auf, doch augenblicklich gab sein rechtes Bein nach und als er daran herabsah, erblickte er eine große Platzwunde, welche sich über das gesamte Schienbein erstreckte. Auch seine Unterarme brannten entsetzlich, denn die Steine und der Sand des Feldweges hatten sich hineingefressen und womöglich war etwas gebrochen. Brust und Bauch hatten Schürfwunden erlitten und seine gesamte Kleidung war zerschlissen und blutbesprenkelt. Vor seinen Augen flackerten noch immer kleine blitzende Punkte auf und er musste sich eingestehen, dass er Halldor nicht mehr verfolgen konnte. Schmerzerfüllt brüllte er auf und in diesem Schrei versammelte sich der ganze Hass, welchen er auf den ehrlosen Ritter in sich trug. Den Entführer von Rovinja, seinem Kind.
Ich werde dich finden und dir deine Eingeweide aus deinem stinkenden Leib reißen!, dachte Aldrĭn und bemerkte nicht, dass er es laut gesagt hatte. Vor Verzweiflung und Erschöpfung kamen ihm die Tränen, während er beobachtete, wie sich der von den Kutschrädern aufgewirbelte Staub legte.
Humpelnd schleppte er sich über den Weg, um Julianas Degen aufzuheben. Das Pferd lag regungslos im Graben, doch als Aldrĭn näher kam, konnte er sehen, dass es noch atmete. Mit weit aufgerissenen Augen schnappte es röchelnd nach Luft, doch eine weite Blutlache, die sich von seiner Halsader ausbreitete, kündigte den lauernden Tod an. Der Bolzen war gänzlich im Nacken des Tieres versunken und hatte eine klaffende Wunde geschlagen. Schaum trat aus dem Maul des Rosses aus und Aldrĭn betrachtete es mitleidig. „Verzeih“, sagte er leise und stieß dann den Degen in das Herz des Tieres, welches augenblicklich von seinem Todeskampf erlöst war.
Auf halbem Rückweg kam ihm Juliana entgegen, die bis hierher gerannt sein musste. Als sie sah, wie er sich derart übel zugerichtet auf dem Feldweg zurück schleppte, blieb sie fassungslos stehen und rief ihm von weitem zu: „Was tust du denn?“ In der Linken hielt sie Galyndúr und das Schwert funkelte in der Sonne.
Aldrĭn erwiderte ihren vorwurfsvollen Blick mit zerknirschter Miene. „Das Pferd ist tot“, sagte er bloß, als er sie erreicht hatte, „sie sind weg.“ Augenblicklich entgleisten Julianas Gesichtszüge zu einem Ausdruck von Zorn und Verzweiflung. Sie stürzte sich auf ihn und ihre Finger krallten sich in den Stoff der Tunika über seiner Brust. Er spürte, wie die Haut darunter entsetzlich brannte, doch statt sie davon abzuhalten, nahm er seine Frau zärtlich in den Arm.
„Du musst…“, begann sie, doch die nächsten Worte gingen in ihren Tränen unter. Aus Richtung der Kate kam Galeon gelaufen und blieb unmittelbar vor seinen Eltern stehen. Verstört beobachtete der Junge das Geschehen. Aldrĭn erblickte ihn und während ihn eine große Erleichterung überkam, dass sein Sohn unversehrt war, wuchs in ihm der Entschluss, Halldor zur Strecke zu bringen, ehe dieser sich auch an seinem anderen Kind vergreifen konnte.
Die schwere Truhe unter dem Fenster wurde geöffnet und zum ersten Mal seit Jahren wurde der Schatz angerührt, der darin schlummerte. Aldrĭn griff mehrmals hinein und schüttete händevoll Goldmünzen in einen Lederbeutel. Die verletzten Stellen seines Körpers hatte er notdürftig mit Leinen verbunden und neue Kleidung angelegt. Gebrochen schien glücklicherweise nichts zu sein, auch wenn seine Arme noch immer stark schmerzten an den Stellen, wo er auf den Boden geprallt war.
Er hatte kein Wort mehr mit Juliana gesprochen, seitdem sie vor einer halben Stunde zurückgekommen waren. Mit Besorgnis hatte er beobachtet, wie ihr anfänglicher Aufruhr mit einem Mal wie weggewischt gewesen war und sie scheinbar teilnahmslos angefangen hatte, die Leichname der Männer aus dem Garten in den Wald zu schleifen. Aldrĭn hatte ihr mit einem der Körper geholfen, dann hatte sie von den Toten abgelassen und war in den Garten gegangen. Als sei nichts geschehen, hatte sie begonnen, die Eier aus dem Hühnerstall zusammen zu sammeln. Er aber hatte es nicht gewagt, sie anzusprechen oder zu berühren. Viel zu sehr war er selbst von einem Wechselbad der Gefühle vereinnahmt. Doch nun, wo er das Gold abfüllte, das er benötigen würde, spürte er, wie sich sein Verstand wieder schärfte und jeder weitere Schritt sich in seinem Kopf zu einem klaren Bild zusammensetzte.
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