„Weil ich mich jetzt endlich meiner Forschung widme. Doreen kann alle weiteren Anfragen ablehnen.“ Vorausgesetzt, dass das nicht unter ihrer Würde ist, denke ich im Stillen, spreche es aber lieber nicht laut aus. Zur Not werde ich die Absagen selbst übernehmen. Allein die Vorstellung, den Punkt Vortragsreise auf meiner To-do-Liste zu streichen, nimmt mir einen Stein von der Seele. Eine Reise habe ich erfolgreich hinter mich gebracht. Das reicht. Ich habe meine Pflicht erfüllt, mein Soll getan, alles Weitere wäre Kür.
Ich nehme mir eines der frischen Bruschetta, die gerade vor mir abgeladen werden, und beiße in das warme, knusprige Brot mit dem kühlen Belag. Es schmeckt wunderbar. Ein Tropfen Olivenöl rinnt an meinem Kinn hinab, und ich suche nach einer Serviette, um ihn unauffällig zu entfernen.
Mein Vater beobachtet mich. „Du solltest diese Entscheidung noch einmal überdenken. Du musst ja nicht sofort wieder losfahren. Aber in der vorlesungsfreien Zeit nach dem Sommersemester könntest du eine zweite Reise planen. Bis dahin hast du in der Tat anderes zu tun. Das wird man verstehen.“
„Wie meinst du das?“, frage ich verunsichert.
Statt zu antworten, nimmt mein Vater seine Brille ab und putzt sie umständlich. Es dauert eine Weile, bis er fertig ist. „Otto Mannström musste seinen Kopf durchsetzen“, erklärt er schließlich.
Da es offensichtlich ist, dass er auf eine Reaktion wartet, frage ich brav: „Und das bedeutet?“
„Wir mussten alles ändern.“ Er schaut mir direkt in die Augen. „Aber für dich ist es gut. Du wirst die Einführung in die Experimentalphysik von Otto übernehmen.“
„Was?“, frage ich entsetzt. Meine Stimme klingt belegt und das liegt nicht am Bruschetta. Die Einführung in die Experimentalphysik ist eine Vorlesung, die jede Woche mit mindestens fünf Stunden stattfindet, plus Übungen! „Wie soll ich das schaffen?“
„Ich habe mich in deiner Abwesenheit für dich eingesetzt.“
„Wenn das deine Art ist, dich für mich einzusetzen, dann vielen Dank!“ Ich merke, dass ich viel zu laut spreche. Das Paar am Nebentisch dreht sich irritiert zu uns um. Aber es ist mir egal. „Bist du wahnsinnig?“
„Nein, nur besorgt.“ Mein Vater lächelt mich an.
Seine Überlegenheit treibt mir die Tränen in die Augen. Ich bin so wütend, dass mir alle Worte fehlen. Deswegen starre ich ihn nur an. Doch er lächelt, völlig unbeirrt.
„Die Vorlesung wird sich sehr gut in deinem Lebenslauf machen, wenn du dich auf die W3-Professur in München bewirbst. Und auch hier in Bochum wird dein Einsatz nicht unbemerkt bleiben.“
„Wofür du natürlich sorgen wirst!“, stoße ich hervor und lege das letzte Bruschetta wieder zurück auf den Teller. Mir ist der Appetit vergangen. Dafür habe ich umso größeren Durst.
„Natürlich unterstütze ich dich“, fügt er hinzu. „Bochum ist längst nicht mehr die Universität der Arbeiterkinder. Wir haben einen guten Ruf. Nicht zu vergleichen mit CalTech oder dem MIT natürlich. Aber anständig.“ Mein Vater verzieht seinen Mund zu einem leicht zynischen Lächeln, wie immer wenn er die Ruhr-Uni mit den großen amerikanischen Universitäten vergleicht.
Obwohl ich mir fest vorgenommen habe, nach der Reise mit dem Alkohol kürzerzutreten, stürze ich das Glas Wein in einem Zug hinunter. Der Alkohol erfüllt seine Bestimmung. Er steigt von der Speiseröhre direkt in meinen Kopf, wo er umgehend seine Wirkung entfaltet.
„Wie konntest du nur?“, rufe ich und fühle, wie der Zorn meine Wangen erhitzt.
„Mel!“ Mein Vater greift nach meiner Hand.
Am liebsten würde ich sie wegziehen. Doch er ist stärker, viel stärker. Ich hasse ihn. Aber ich kann nicht verhindern, was seine Berührung in mir auslöst. Mein Widerstand schmilzt dahin. Obwohl ich es nicht möchte, obwohl sich etwas in meinem Inneren mit aller Kraft dagegen sträubt, übertönt die Stimme meines Gewissens jeden Widerstand in mir. Laut durchdringen mich die alten Gedanken: Mein Vater meint es nur gut mit mir. Ich bin alles, was er hat. Ich darf ihn nicht enttäuschen.
Und mein Zorn weicht dem schlechten Gewissen. Wieso bin ich eine derart undankbare Tochter? Das hat er nicht verdient. Nicht auch noch von mir. Ich sollte tun, was er von mir erwartet. Es ist nur zu meinem Besten.
„Du hättest damals den Ruf zum CalTech annehmen sollen“, flüstere ich.
Ich spüre die Hand meines Vaters auf meiner geballten Faust. Ich spüre seine Zärtlichkeit und seine Unnachgiebigkeit.
„Deine Mutter hätte die fremde Umgebung nicht vertragen. Das weißt du.“
Damals ahnte ich es nicht. Ich war noch ein Kind. Heute weiß ich, dass die Berufung an die renommierte kalifornische Universität seine große Chance gewesen wäre. Vielleicht hat er abgesagt in der Hoffnung, dass sich noch eine zweite Chance finden würde, irgendwann. Doch die gab es nicht mehr.
Mein Vater schaut mich an. „Jetzt geht es um dich. Es ist deine Karriere, dein Labor und deine Arbeit, die auf dem Spiel steht, Kleines. Es geht mir nur um das, was dir wichtig ist.“
Ich merke, wie sich langsam, ganz langsam meine Hand in der meines Vaters entkrampft und endlich die ihr entgegengebrachte Zärtlichkeit annimmt. Er war immer da, wie der sprichwörtliche Fels in der Brandung. Ich konnte mich immer auf ihn verlassen, ihm vertrauen. Als meine Mutter tot war, hat mein Vater uns allein großgezogen. Er war es, der mich darin bestärkt hat, Physikerin zu werden und seinen großen Fußstapfen zu folgen. Ohne seinen Zuspruch wäre ich verloren gewesen. Er wusste immer, was gut für mich war. Seinem Urteil konnte ich vertrauen – und das kann ich heute noch. Er würde mich nie enttäuschen.
Oder doch? Der Zweifel ist plötzlich da, hat sich in meine Gedanken geschlichen, bevor ich ihn aufhalten und den mentalen Verrat verhindern konnte. Wo kommt er her?
„Ist etwas, Mel?“
Ich schüttle den Kopf. Nein, dieser Zweifel ist völlig absurd. Mein Vater ist ein guter Mensch. Mit aller Kraft dränge ich ihn zurück. Ich will ihn nicht hören. Er ist unangebracht, ungerecht. Undankbar und kindisch.
Zuversicht, das ist das Gefühl, das ich jetzt brauche. Ich will es schaffen. Ich kann und ich werde mein Labor retten. Alles ist möglich, solange mein Vater zu mir steht. Eine Vorlesung mehr werde ich auch noch packen.
„Danke, dass du für mich da bist“, sage ich, so fest ich kann.
Mein Vater winkt ab. „Die Vorlesung hört sich schlimmer an, als sie ist.“
„Wie soll ich das schaffen?“
Er lächelt. „Genauso wie alle anderen vor dir es auch geschafft haben. Es ist seit Jahrzehnten dasselbe. Die Themen für die einzelnen Stunden liegen fest. Du musst den Stoff nur vortragen.“
„Und die ganzen Experimente?“
„Um die kümmert sich Herr Homann. Du bist die Showmasterin. Du schreibst die Formeln aus dem Skript an die Tafel, stellst dich für den einen oder anderen Versuch zur Verfügung und überlässt ihm den Rest. Es ist eine Show. Mehr nicht.“
„Und was, wenn …? Wenn wegen mir und meiner miserablen Vorlesung die Studenten scharenweise die Uni verlassen?“
Mein Vater schüttelt den Kopf. Doch er lächelt. „Mel, wenn jemand die Studenten fesseln, motivieren und zum Lernen bewegen kann, dann du!“ Weil ich nicht darauf anspringe, fährt er fort: „Wenn du ein bisschen von deiner eigenen Begeisterung vermittelst, von deiner Faszination für die Physik, werden sie dich lieben.“
„Ehrlich?“
Der eben noch aufbrausend wirkende Wein verteilt sich langsam in meinen Adern. Er durchströmt meinen Körper und hinterlässt ein wundervoll beruhigendes Gefühl. Die Erinnerung an die Vorträge der letzten Woche schleicht sich in mein Gedächtnis. An den Applaus und das gebannte Interesse des Publikums. Wie zur Bestätigung nickt mein Vater. Vielleicht hat er ja recht. Vielleicht ist alles gar nicht so schlimm. Andere schaffen es auch.
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