„Da liegst du …“
Zum Glück tritt in diesem Moment der Kellner an unseren Tisch. „Was möchten Sie trinken?“
„Eine Flasche von Ihrem Sangiovese“, bestellt mein Vater und wendet sich wieder an mich: „Du hast gerade erst angefangen.“
„Gran Sasso Sangiovese“, bestätigt der Ober und kritzelt etwas auf seinen Block. „Grazie.“
„Das passt zum Thema.“ Mein Vater wirft mir einen bedeutungsvollen Blick durch die Brillengläser zu. „Ich habe gehört, dass Enrico Roggero eine fachübergreifende Konferenz in L’Aquila am Gran Sasso organisiert.“
Ich nicke abwesend, und drehe mich auf der Suche nach dem Kellner auf meinem Stuhl um. „Ich hätte gerne ein Wasser“, rufe ich ihm hinterher und hoffe, dass er mich gehört hat, denn er ist bereits auf dem Weg zum nächsten Tisch.
„Soweit ich weiß, will er dich zu einem Vortrag einladen, wahrscheinlich ein Overview Talk.“
„Ich weiß. Seine Einladung liegt auf meinem Küchentisch, zusammen mit mindestens 20 anderen. Doreen hat sie alle an meine Privatadresse weitergeleitet.“
„Wieso das?“
„Frag nicht. Vermutlich wollte sie ihren Schreibtisch aufräumen. Jedenfalls hat sie alle Briefe, die an Rüdiger oder mich adressiert waren, in einen großen braunen Umschlag gesteckt und mir geschickt, einschließlich der Werbeprospekte.“
„Wusste sie nicht, dass du auf Vortragsreise bist?“
„Doch, natürlich.“
Ich seufze, denn ich habe mich längst damit abgefunden, dass Doreen ihre Aufgaben als Sekretärin sehr individuell auslegt. Rüdiger hatte vor ein paar Jahren einmal überlegt, sie zu entlassen, aber feststellen müssen, dass es quasi unmöglich ist, eine Angestellte des Öffentlichen Diensts loszuwerden, will man nicht gleich die ganze Stelle verlieren oder auf unbestimmte Zeit an einen anderen Lehrstuhl abtreten.
„Du musst dein Personal im Griff haben“, stellt mein Vater mit einem strengen Blick fest, als sei es meine Schuld, dass die faulste Sekretärin der Welt ausgerechnet eines unserer Büros besetzt hält.
„Personal? Doreen? Diese Bezeichnung verdient sie nicht“, entgegne ich trocken. Bevor ich mich bremsen kann, rutscht mir heraus: „Stell dir vor, die E-Mails hat sie mir auch alle nachgeschickt. Aber nicht etwa digital, sondern per Schneckenpost, ausgedruckt und in einem extra Briefumschlag.“
Mein Vater schüttelt missbilligend den Kopf, während der Kellner zwei Weingläser auf unseren Tisch stellt. Mit geübtem Griff entkorkt er die Flasche und schenkt ein.
„Gran Sasso Sangiovese, prego.“
„Entschuldigung, ich hatte ein Wasser bestellt“, werfe ich ein, werde jedoch nur mit einer hochgezogenen Augenbraue bedacht.
„Haben Sie gewählt?“, erkundigt sich unsere Servicekraft stattdessen.
„Eh, nein“, antworte ich verwirrt, während mein Vater seinerseits den Kellner übersieht, bis dieser freiwillig den Rückzug antritt.
„Mel, du hast den Lehrstuhl kommissarisch übernommen. Damit obliegt dir die gesamte Verantwortung, auch für das Personal.“
Ich höre nur mit halbem Ohr zu, während ich die Auswahl an Pizzas überfliege. Das Thema ist mir unangenehm. Kommissarische Leitung, das klingt viel zu groß. Und was heißt es schon? Ich versuche nur, meinen Job zu machen.
„Morgen rufst du Doreen in dein Büro und erklärst ihr klar und deutlich, dass sich gewisse Dinge ab sofort ändern.“
„Hast du schon mal die Pescatore probiert?“
„Mel!“
Ich merke, dass ich auf meinem Stuhl hin und her rutsche wie ein Schulmädchen. Im Grunde weiß ich, dass er recht hat. Personalverantwortung liegt mir gar nicht. Außerdem vermute ich stark, dass ein Gespräch mit Doreen keinerlei Aussicht auf Erfolg hat. Wenn Rüdiger das nicht geschafft hat, werde ich erst recht nichts ausrichten können. Der einzige Effekt wird eine längere Krankschreibung sein, was bedeutet, dass ich auch die wenigen Aufgaben übernehmen muss, die Doreen freiwillig erledigt, wie Kaffeepulver einkaufen oder das Büromaterial verwalten.
„Acqua minerale, prego.“ Die Stimme des Kellners reißt mich aus meinen Gedanken. Er stellt schwungvoll eine Flasche Wasser auf den Tisch. Das Eingießen vergisst er.
Ich hebe vorsichtig den Blick. Aber mein Vater studiert endlich die Hauptspeisen und sagt für einen Moment nichts. Ich gieße mir also Wasser ein und beobachte das ältere Pärchen am Nachbartisch. Sie sind beide weit über 60, aber offenbar frisch verliebt. Er streichelt ihre Hand, während sie gemeinsam überlegen, ob sie für den geplanten Kurztrip nach Brügge wohl ein Doppelzimmer buchen können, aus Kostengründen, versteht sich. Bei ihrem Anblick wird mir ganz warm ums Herz.
Leider brennt mein Vater darauf, sein Verhör fortzusetzen. Als der Kellner wieder an unserem Tisch erscheint, hat er bereits meine Besuche in Frankfurt und Gießen abgehakt und ist in München angekommen.
„Gustav meint, dass du dich auf die freie Stelle bewerben sollst."“
„Ich dachte, er will Tobi Neuer.“
„Mel! Natürlich hätte Gustav lieber seinen eigenen Mann. Aber er ist kein Dummkopf. Er weiß genau, dass die Frauenbeauftragte darauf spekuliert, ihm eine ihrer Kandidatinnen vor die Nase zu setzen. Daher bringt er lieber seine eigene weibliche Kandidatin ins Rennen.“
Ich schaue demonstrativ auf die Speisekarte, die immer noch aufgeschlagen vor mir liegt.
„Haben Sie gewählt?“, säuselt der Kellner, während er geschäftig Block und Kuli zückt.
„Bruschetta und eine Pizza mit Parmaschinken und Rucola“, entscheide ich.
„Saltimbocca alla romana.“ Mein Vater wirft dem Kellner einen Blick zu, der ihn abschwirren lässt, noch bevor er unsere Bestellungen auf seinen Block gekritzelt hat.
„Was war das eigentlich für eine Aktion im Radio? Einige Kollegen haben diesen Beitrag im Deutschlandfunk gehört und ihre Studenten in der Vorlesung auf den Podcast aufmerksam gemacht.“
„Oh, nein.“
Die Vorstellung, dass jetzt alle wieder und wieder hören können, was ich im Radiointerview live und spontan von mir gegeben habe, gefällt mir nicht.
„Keine Sorge. Du hast dich gut geschlagen. Auch wenn du dir den Witz über Otto Hahns Frau hättest sparen können.“
Ich merke, dass ich rot werde. Das Interview wurde abends live aus dem Studio gesendet. Der ganze Tag war schon voll gewesen mit einer öffentlichen Vorlesung an der Berliner TU und anschließendem Meet and Greet. Ich hatte die Einladung des Senders nur angenommen, weil das Studio nicht weit entfernt lag, und ich dachte, dass es eh niemand hören würde. Doch dann verlief der Abend überraschend angenehm. Die Redakteurin war sehr sympathisch, sodass sich das Interview zu einem netten Gespräch über die Naturwissenschaften im Allgemeinen, Frauen in der Forschung und unser aktuelles Experiment entwickelte. So kam es, dass ich am Ende in einem Anfall ungewohnter Redseligkeit einen Witz zum Besten gab, den ich am Tag zuvor aufgeschnappt hatte. Eigentlich war er harmlos: Wie spaltete Otto Hahn den ersten Atomkern? Antwort: Er gab ihn seiner Frau und bat sie, ihn nicht kaputt zu machen. Die Redakteurin und ich mussten darüber ziemlich lachen. Nachher habe ich erfahren, dass innerhalb der nächsten Stunde bereits fünf E-Mails und drei Anrufe beim Sender eingingen, die sich alle mit der offen zur Schau gestellten Frauenfeindlichkeit auseinandersetzten, wenn auch in unterschiedlicher Schärfe.
Mein Vater mustert mich über seine Brillengläser hinweg. „Ich hätte mir etwas mehr Ernsthaftigkeit erhofft“, stellt er fest. Doch als ich einigermaßen zerknirscht meinen Blick senke, fügt er versöhnlich hinzu: „Den Studenten hat es natürlich gefallen.“
„Keine Sorge, Papa. Es kommt nicht wieder vor. Das war mein erstes und letztes Radiointerview.“
„Wie kommst du darauf?“
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