Sie hat ganz rote Wangen. Ich glaube, sie weiß schon gar nicht mehr, wie viel Wein sie getrunken hat, denn Borsing füllt ihr Glas immer wieder auf, sobald es nur halbleer ist. Mir ist schon ganz schwummrig. Bei dem ganzen Sekt zur Begrüßung, Aperitif am Tisch, Weißwein zum Fisch, Rotwein zum Wild und so weiter habe ich die Übersicht verloren. Als endlich der Nachtisch kommt, eine Variation aus weißer und brauner Mousse auf einem Fruchtspiegel von Beeren der Saison, da bin ich froh, dass Mel endlich einen Kaffee bestellt, also einen ganz normalen Kaffee meine ich, ohne Schnickschnack, nur mit Milch.
Das Gespräch dreht sich schon den ganzen Abend um Astrophysik. Borsing will alles wissen, wie Sterne Energie produzieren, wie die Elemente bis zum Eisen entstanden sind und auch die darüber. Kaum hört er mit dem Fragen auf, um vielleicht einen Löffel Schaumsüppchen von irgendwas zu essen, fällt jemand anderem garantiert eine neue Frage ein.
Mel ist glücklich. Ich glaube, sie freut sich über das Interesse an ihrem Fach. Mit leuchtenden Wangen erzählt sie vom CNO-Zyklus und der pp-Kette, mit deren Hilfe Sterne wie unsere Sonne Energie gewinnen. Sie zeigt mit den Händen, wie ein Roter Riese am Ende seines Sternenlebens pulsiert und schließlich explodiert. Ich glaube, die anderen Gäste, also die Mitglieder des Lions Clubs, sind alle total begeistert. Auch ihre Augen leuchten. Aber vielleicht liegt das nur an dem schönen Kerzenlicht, das sich in ihren Pupillen spiegelt, oder am Wein, von dem alle ganz schön viel getrunken haben.
„ Und das alles haben Sie herausgefunden?“, fragt die Dame mit dem blauen Kostüm, die eben schon im Hörsaal dabei war.
„ Oh nein, natürlich nicht. Nicht ich allein. Die Nukleosynthese, so nennt man diese Form der Energie- und Elementproduktion in der Fachsprache, ist schon seit den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts in der Theorie bekannt. Das heißt, Eddington hatte die Idee, dass Kernfusion, genau genommen die Fusion von Wasserstoff zu Helium, ein Energielieferant im Inneren eines Sterns sein könnte. Aber erst 1957 veröffentlichte Willy Fowler mit ein paar Kollegen erste quantitative und damit im Prinzip überprüfbare Berechnungen. 1983 bekam er dafür den Nobelpreis. Das Problem ist, dass wir die stabilen Brennphasen der Sterne ganz gut beschreiben können, doch in explodierenden Systemen sehr kurzlebige Isotope den Hauptanteil an den Reaktionsraten tragen. Das ließ sich bislang unter Laborbedingungen nur bedingt nachmessen.“
Die Frau lächelt Mel an. „Ich fürchte, jetzt haben Sie mich verloren“, sagt sie und winkt ab, als Mel sich dafür entschuldigen will. „Oh nein, das ist nicht schlimm. Ich habe heute so viel Neues gelernt. Vielen Dank dafür. Es war ein ganz wundervoller Abend.“
„ Das stimmt“, pflichtet Borsing ihr bei.
Auch die anderen am Tisch murmeln ihre Zustimmung. Nur ein Mann mit Hornbrille, der schon den ganzen Abend immer wieder so komisch zu Mel herüber geschaut hat, beugt sich vor.
„ Aber sagen Sie mal ehrlich, Frau Dr. Glanz. Ist es nicht ungewöhnlich, dass zwei der drei Nobelpreisträger innerhalb weniger Wochen sterben?“
Mel, die sich gerade einen Löffel Dessert in den Mund schiebt, starrt ihn an und sackt dann in sich zusammen wie die Mousse.
„ Was willst du denn damit sagen, Karl-Peter?“, fragt ein älterer Herr mit weißem Schnauzer und tiefer Stimme.
„ Ich verstehe auch nicht, was Sie meinen“, flüstert Mel.
„ Nun es ist auffällig. Da fragt man sich, ob es, sagen wir mal, mit rechten Dingen zugegangen ist.“
„ Nun ist aber gut, Karl-Peter“, brummt der Schnauzbart. „"Du willst doch wohl nicht sagen, dass die beiden ermordet wurden, oder?“
„ Nein“, ruft Mel mit aufgerissenen Augen.
Und ich weiß, dass sie über diesen Gedanken wirklich entsetzt ist. Mel ist so. Sie ist viel zu nett für diese Welt. Sie glaubt immer nur an das Gute in jedem. Sie ist vielleicht ein bisschen naiv. Und der ganze Wein heute Abend hilft auch nicht gerade.
Aber ich bin jetzt wirklich wütend. Nicht auf Mel natürlich, sondern auf diesen Karl-Peter. Was fällt ihm ein? Am liebsten würde ich ihm in seinen Fruchtspiegel spucken. Zum Glück muss ich das nicht, denn nun schaltet sich Borsing ein.
„ Ich bin mir sicher, dass die Polizei das bereits untersucht hat“, sagt er ganz ruhig. Sein Mund lächelt, aber seine Augen gucken Karl-Peter streng an.
„ Um ehrlich zu sein, wurde gar nichts untersucht“, unterbricht ihn Mel. Dabei wünschte ich, sie würde jetzt einfach mal nichts sagen. Stattdessen fährt sie fort: „Warum auch? Rüdiger starb an einem akuten Leberversagen. Und woran George gestorben ist“, Mel zögert und runzelt verunsichert die Stirn. „Offen gestanden, weiß ich es gar nicht. Ich nehme an, es hatte eine ganz natürliche Ursache. Sie waren zwar beide noch nicht sehr alt. Aber …“
„ Genau. Es gibt solche Zufälle“, springt die Frau im blauen Kostüm Mel zu Hilfe. „Meine Schwiegereltern sind beide innerhalb von nur einem Monat gestorben. Willst du mich jetzt auch des Mordes verdächtigen?“ Sie lacht laut und zwinkert Karl-Peter zu, als hätte sie einen Spaß gemacht.
„ Nein, nein, natürlich nicht“, winkt er ab.
Ich kann sehen, dass er am liebsten mit dem Teppich an der Wand verschmelzen würde. Von mir aus dürfte er das gerne tun oder sich in Luft auflösen. Das ist mir egal. Hauptsache, er lässt Mel in Ruhe.
Ich glaube, Borsing hat jetzt ebenfalls die Nase voll. Er schaut Mel an. „Ich denke, es war für uns alle ein langer und überaus faszinierender Tag. Ich habe mich sehr gefreut, dass Sie stellvertretend für Ihren verstorbenen Chef unserer Einladung nachgekommen sind. Kann ich Ihnen zum Abschluss noch etwas anbieten? Die Auswahl an Digestifs ist außerordentlich. Es gibt hier einen 30 Jahre alten Tawny Port, den ich nur empfehlen kann, vorausgesetzt natürlich Sie mögen Portwein.“
Mel lächelt scheu. „Das klingt wirklich wunderbar. Aber ich glaube, für heute Abend habe ich genug getrunken.“
Die anderen Mitglieder des Clubs schließen sich ihr an, sodass sich Borsing erhebt und das Essen ganz offiziell beendet.
Auf dem Weg zum Ausgang drängt sich dieser Karl-Peter noch einmal an Mel heran. „Ich hoffe, Sie haben mich eben nicht missverstanden“, nuschelt er. „Ich wollte Sie natürlich nicht verdächtigen. Sie ganz gewiss nicht.“ Dabei betont er das Sie so, dass ich mich frage, wen er denn lieber verdächtigen würde. „Ich habe nur gemeint …“
Mel schaut ihn fragend an.
„ Ach, nichts.“ Er streckt Mel seine Hand hin. „Es war auch für mich ein sehr unterhaltsamer und interessanter Abend. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind.“
„ Vielen Dank für die Einladung“, erwidert Mel sofort und nimmt die Hand an, als wäre damit alles vergessen. Sie ist eben zu nett.
Ich koche noch ein Weilchen vor mich hin. Karl-Peter soll sich schön vorsehen. Aber der geht mit den anderen nun hinaus zu den Autos.
Damit ist der Tag endlich vorbei. Nachdem Mel sich verabschiedet hat, nehmen wir den Fahrstuhl hoch zu unserem Zimmer und lassen uns wie echte Prinzessinnen auf das riesige Himmelbett fallen.
Es ist Sonntagnachmittag. Sonnenstrahlen bahnen sich einen Weg durch die grünen Baumkronen, als ich aus der U-Bahn steige und die letzten Meter zu meiner Wohnung am Stadtpark laufe. Trotz aller Erfolge bin ich froh, endlich wieder zu Hause zu sein.
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