Erschöpft lasse ich den Koffer im Flur stehen, werfe die Briefe auf die Kommode, meine Schuhe in die Ecke und gehe auf direktem Weg in die Küche, um heißes Wasser für einen Kaffee aufzusetzen.
Ich habe insgesamt acht Vorträge in sechs Tagen gehalten. Ich habe Universitäten im ganzen Land besucht, von Gießen über München bis Berlin. Ich war im Radio, in einem Wissenschaftszentrum und sogar in einem Planetarium. So königlich wie in Frankfurt bin ich zwar nicht mehr empfangen worden, aber auch die übrigen Hotels waren nicht schlecht. Manchmal gab es ein gemeinsames Abendessen, dann wieder nur Wein und Käse. Ich habe vorgetragen, berichtet und erzählt, war ständig von neuen, freundlichen, aber fremden Menschen umgeben. Die einen waren leidenschaftlich, die anderen neugierig interessiert. Alle stellten Fragen über Fragen und wünschten mir am Ende das Beste. Doch jetzt merke ich, dass auch Wohlwollen ermüden kann. Ich bin froh, heute Abend in meinem eigenen Bett zu schlafen und für den Rest des Tages mit niemandem mehr zu sprechen.
Das Wasser kocht. Mit dem Messlöffel fülle ich eine Portion Pulver in die Kanne und gieße den Kaffee auf. Er riecht wunderbar. Auch das habe ich zwischen all den Cappuccinos, Macchiatos und Milchkaffees vermisst: meinen eigenen, ganz banal aufgebrühten Kaffee ohne Schnickschnack. Nachdem der braune Satz auf den Kannenboden gesunken ist, drücke ich langsam das Sieb hinunter und gieße mir eine große Tasse ein. Weil er noch viel zu heiß zum Trinken ist, nehme ich die Tasse mit auf den Balkon und lasse mich auf einen der Klappstühle fallen. Für einen Moment schließe ich die Augen, genieße den Kaffeeduft in meiner Nase und die Sonnenstrahlen auf meiner Haut.
Es ist eigenartig. Obwohl ich jeden Vortrag vor einem anderen Publikum gehalten habe, wurden am Ende jedes Mal mehr oder weniger dieselben Fragen gestellt. Es gab die Zuhörer mit Fachwissen, Kollegen aus verwandten Bereichen, die detaillierte Fragen zum Experiment stellten. Sie erkundigten sich nach dem Energiefenster oder dem Einfluss des radioaktiven Zerfalls auf die Fehleranalyse. Ihre Fragen zu beantworten, fiel mir leicht. Doch weil die meisten Vorträge öffentlich waren, mischten sich zwischen die Fachleute auch die naturwissenschaftlich bewandten Laien. Sie fragten nach den großen Zusammenhängen, vermischten wahllos Fachbegriffe wie Stringtheorie, Quantengravitation und Supersymmetrie und meinten, ich wüsste, wovon sie redeten. Meist waren es ältere Herren. Ihre Lesebrille saß entweder auf der Nase oder steckte irgendwo in ihrem ergrauten Haar, unter ihrem Arm klemmte die Ausgabe eines populärwissenschaftlichen Magazins. Erst habe ich mich bemüht, den Sinn hinter ihren Fragen zu entschlüsseln. Doch irgendwann habe ich festgestellt, dass die Mühe völlig vergeblich war und zum Glück auch nicht erwartet wurde. Im Grunde wollten sie bloß ihr sorgfältig angelesenes Halbwissen zur Schau stellen und begnügten sich mit einem nachdenklichen Nicken meinerseits anstelle einer fundierten Antwort.
Doch dann gab es auch immer mindestens einen Karl-Peter, der zwar keine Frage stellte, aber trotzdem auf eine Antwort lauerte. Wie zufällig machte er eine Bemerkung zu Rüdigers und Georges Tod, als wäre der Verlust meiner Mentoren eine schicksalhafte Fügung, die auf jeden Fall kommentiert werden musste, wobei am Ende beharrlich die eine unausgesprochene Frage in der Luft hing: Was, wenn es doch kein Zufall war? Bis zum Schluss meiner Reise ist mir keine passende Erwiderung eingefallen. Wie soll ich auch auf eine Frage antworten, die eigentlich gar nicht gestellt wird?
Während ich meinen Kaffee schlürfe, habe ich das Gefühl, die Antwort könnte in Georges Todesursache liegen. Wahrscheinlich gibt es eine völlig harmlose Erklärung, eine, die alle Anschuldigungen, vor allem auch die nicht ausgesprochenen, entkräftet und jeden Karl-Peter entwaffnet. Ich sollte Phil schreiben und ihn fragen. Aber nicht mehr heute. Heute habe ich frei.
Ich stelle die leere Tasse unter meinen Stuhl und schließe die Augen. Jetzt möchte ich nur die Stille genießen, mich von der Sonne wärmen lassen und spüren, wie ihre Strahlen meine Arme streicheln. Mit einem wohligen Seufzen lehne ich mich zurück und lausche dem Rauschen der Blätter, das wie Musik aus den alten Bäumen zu mir herüberweht.
Ich mag es, wenn Mel sich entspannt. Ich kraule ihren Arm und summe leise vor mich hin. So könnte ich ewig hier sitzen. Es gibt nur Mel und mich. Leider klingelt in diesem Moment das Telefon, und sie schreckt hoch, als würde sie aus einem schlechten Traum erwachen.
„ Wie war deine Reise?“, höre ich seine Stimme durch den Hörer schallen, und mir wird kalt, obwohl die Sonne scheint. „Oh, hallo Papa!“, murmelt Mel.
Ich glaube nicht, dass sie sich freut, ihn zu sprechen und frage mich, warum sie überhaupt ans Telefon gegangen ist. Sie hätte es einfach schellen lassen können. Es hätte schon wieder aufgehört.
„ Was machst du heute Abend?“
„ Ich weiß nicht. Wahrscheinlich gar nichts. Vielleicht bestelle ich eine Pizza und schaue mir einen Film an.“
„ Was hältst du davon, wenn ich dich zum Essen einlade? Dann kannst du mir Bericht erstatten.“
Mel seufzt, und ich hoffe, dass sie den Mut hat, einfach nein zu sagen. Das ist doch gar nicht schwer. Warum kann sie es nicht? Ich sehe, dass sie unglücklich die Augen zusammenkneift und die Nase krauszieht, als müsse sie sich entscheiden. ER oder sie. Dabei geht es nur um den einen Abend allein, ein paar Stunden für uns. Aber ich weiß, dass Mel ein schlechtes Gewissen hat, wenn sie an sich denkt. Als könnte sie für den Rest ihres Lebens immer nur seine Wünsche erfüllen und immer nur das tun, was ER will.
Mels Schultern hängen hinab. Sie windet sich mit ihrem ganzen Körper. Ich streichle sie weiter und versuche, ihr Mut zu machen.
Tatsächlich holt sie tief Luft und sagt: „Das ist lieb, aber die Reise war …“
Leider hat sie keine Chance. Natürlich nicht. Ich hätte es wissen können. ER hört nur, was ER hören möchte.
„ Gut, wenn du Pizza möchtest, reserviere ich einen Tisch in der Osteria. Dann sind wir heute Abend beide nicht allein.“
Mel beißt sich auf die Lippe und versucht tatsächlich, ihn umzustimmen. „Können wir das Essen nicht auf morgen verschieben?“, fragt sie.
Ich bin richtig stolz auf sie.
ER ignoriert es natürlich. „Ich bin um 19 Uhr da. Komm runter, ich warte im Auto. Dann brauche ich keinen Parkplatz zu suchen.“
Bevor Mel noch etwas sagen kann, hat ER aufgelegt.
Damit ist unser gemütlicher Nachmittag vorbei. Obwohl bis sieben Uhr noch Zeit ist, steht Mel auf und beginnt aufzuräumen. Sie bringt die Tasse in die Küche zurück und zerrt den Koffer aus dem Flur ins Schlafzimmer, um die Wäsche zu sortieren. Ein paar Minuten später läuft die Waschmaschine. Mel sitzt am Esstisch und sieht die Post durch.
„Es freut mich zu hören, dass deine Reise erfolgreich war.“
Die Osteria ist für einen Sonntagabend gut gefüllt. An den Tischen sitzen Paare jeden Alters, und hinten in der Ecke feiert eine Familie Omas 75. Geburtstag.
Die Hände meines Vaters sind über der Speisekarte verschränkt. Er hat noch nicht einmal hineingeschaut. Ohne Umschweife kommt er direkt zum Punkt. „Das wird sich herumsprechen. Darauf kannst du bei der nächsten Vortragsrunde aufbauen.“
„Oh, nein. Eine dieser Ochsentouren reicht mir“, murmle ich, während ich die Vorspeisen überfliege. Bruschetti – das klingt gut, nach Tomaten, frischen Kräutern und vor allem nach Sommer. „Ich denke, ich habe meinen Anteil an Vorträgen erfüllt.“
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