Inzwischen hatten sie in dem mit einfachen Tischen und Stühlen eingerichteten Gastraum Platz genommen. Der Fensterplatz gab zwar den Blick auf den Hafen mit dem großen Museums-U-Boot und dem Fischkutter frei, aber beide Gesprächspartner waren ganz auf ihr spannendes Gespräch konzentriert.
Jetzt erst fiel Pia auf, wie unnatürlich das förmliche Sie gegenüber dem immer vertrauter werdenden Gesprächsverlauf wirkte. Außerdem war sie es aus Schweden gewöhnt, dass sich alle duzten und mit Vornamen anredeten. „Ich heiße übrigens Pia, und du?“
„Andreas“, sagte Schmidt und reichte Pia instinktiv und dann doppelt angenehm berührt die Hand.
„Ja, ich habe davon gehört, ich meine von den Offizieren“, nahm er den Gesprächsfaden wieder auf. „Und, es gibt ja sowohl schwarze wie auch weiße Offiziere, wenn du weißt, was ich meine. In unserer Familiengeschichte spielt ein Offizier eine entscheidende, gewissermaßen eine schwarze Rolle, aber zu der Zeit war er noch keiner.“
Pia akzeptierte, dass es zunächst bei Andeutungen bleiben würde. Andreas wollte aber wohl nicht ganz von diesem Thema lassen. „Familie scheint ja heute ein überholter Begriff zu sein, woran ich aber zweifle. Es wird vielleicht nur anders definiert.“
Pia blickte ihn erwartungsvoll an, als er fortsetzte. „Nicht formale Papiere sind entscheidend, sondern das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Verwandten im weitesten Sinne. Und das hält in der Regel alle Belastungen aus.“
Bei ihrer nächsten Frage ritt Pia der Teufel. „Und wie groß ist deine Familie, wenn ich mal neugierig sein darf?“ Andreas lächelte hintergründig, ehe er antwortete. „Kommt auf die Definition an. Eigentlich ziemlich groß, aber wenn du mit dieser Frage etwas herausbekommen möchtest… Ich habe keine Frau an meiner Seite, in der Familie meine ich.“
Pia lächelte zurück, wollte die aufkommende Unsicherheit mit einer spontanen Antwort überspielen. „Ich auch nicht.“ Auf Andreas‘ fragenden Blick setzte sie verstehend hinzu: „Und auch keinen Mann.“
Nun lachten beide über ihre unbeholfene Kommunikation. Andreas fasste sich als erster. „Jetzt drängt sich natürlich eine weitere Frage auf.“ Pia hörte erstaunt zu. „Und die wäre?“
„Können wir beide auch auf eine Art von Gemeinsamkeit zurückgreifen?“
„Oh, das ist ein weites Feld, würde ein deutscher Dichter sagen, oder eine seiner Figuren.“
„Bleiben wir doch in der Region. Gibt es hier einen regionalen, also quasi familiären Zusammenhalt?“
Pia hatte eine ganz andere Richtung erwartet und konnte mühsam ihre Enttäuschung verbergen.
„Ich meine auf dieser lokalen Ebene? Wenn man sich fast täglich über den Weg läuft, entsteht doch daraus ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl, fast wie in einer Familie.“ Gespannt blickte er Pia an, aus seinen Augen sprach auffallendes Interesse an diesem Thema. „Wenn es um die Region geht, sollten doch alle zusammenstehen, sogar über Familiengrenzen hinweg, von den Parteien ganz zu schweigen.“
Pia wusste nicht, was ihr Gesprächspartner meinte.
„Hast du vielleicht von den Gerüchten zum Thema Deich gehört?“
„Zum Beispiel“, kam es unsicher zurück.
„Vielleicht sollten wir uns dazu lieber in die Landschaft begeben, auch wenn sie so stürmisch geworden ist? Und außerdem“, sie begann in der Speisekarte zu blättern, „gibt es ja noch andere Themen zwischen … Dame und König. Oder hatte ich das Bild vorhin falsch verstanden?“, grinste Pia ihren Gesprächspartner an. „Der Dame gefällt es jedenfalls“, setzte sie vieldeutig hinzu. Andreas reagierte sofort. „Wenn ich mich jetzt als König bezeichne, würde das die Dame bestimmt missverstehen, deshalb ziehe ich Gentleman vor und weite die Einladung zu einem gemütlichen Essen aus. Mit dem Aperitif sollten wir auf unsere Bekanntschaft und hoffentlich noch viele solcher Gespräche anstoßen.“
Pia registrierte zufrieden, dass sie das Gespräch wieder mehr personalisiert hatte und beließ es bei einem sanften Lächeln als Antwort. Ihr Innerstes war dabei, von Kontrolle auf Genießen umzuschalten. Die Stimme des Mannes passte zum Äußeren, und auch der Intellekt stellte für sie eine Herausforderung dar, der sie sich jedoch gewachsen fühlte. Andreas war von deutlich anderem Format als Nils Pettersson. Sie war offensichtlich dabei, Zugang zu einem interessanten Menschen zu finden. Sie fand es auch nicht schlimm, dass sie nicht alle seine Andeutungen gleich verstand.
13 Freitag, 2. November, 16.45 Uhr
Nein, das Gefühl, sich in eine Sackgasse zu begeben, wollte Arne Bock nicht an sich heranlassen. Noch nicht. Dennoch spürte er widerwillig, dass die fehlenden Fortschritte der Ermittlung wie eine dicke Teigmasse seine anfängliche Hochstimmung immer mehr niederdrückten. Er musste sich davon befreien, oder den Teig in einen genießbaren Kuchen verwandeln.
Das originelle Wortspiel erinnerte ihn wieder an seine Kreativität, die er oft an sich bemerkt hatte, die es einfach abzurufen galt.
Er brauchte Impulse.
Erneut rief er seine beiden Ermittlerkollegen zu sich.
„Wir brauchen den Anfang des Fadens“, stellte er gleich zu Beginn klar, auch wenn er damit zugab, selbst keine Idee zu haben.
Dass die unbekannte Tote und das Verschwinden des Bürgermeisters in irgendeiner Beziehung zueinander standen, war durch das mysteriöse Symbol ziemlich klar geworden, wie Arne seinen Mitstreitern dieses Mal unaufgefordert gleich zu Beginn der Beratung erläutert hatte. Auch eine mögliche Verbindung zum Verschwinden von Dieter Bornhöft sollten sie nicht aus den Augen verlieren, wie er mit einem Hinweis auf den Druck seitens Hartmut Westphals aber eher pflichtgemäß hinzufügte.
Nachdem auch der Besuch im Büro des Bürgermeisters in Usedom keinerlei Anhaltspunkte brachte, versuchten die drei Ermittler nun aus der Symbolik des Tattoos eine Bedeutung für den Fall herauszulesen.
Ein Dolch mit einer sich um ihn windenden Schlange.
Während Siegfried sein verschüttetes Schulwissen gar nicht erst bemühte und vergeblich in seinem Gedächtnis kramte, Arne stückweise einige Stichworte aus der germanischen Mythologie aus dem Taschenlexikon wiedergab, stieß Rita ein kurzes und dafür umso lauteres „Ha!“ in die Männerrunde. Sie hatte einfach die Worte „Dolch mit Schlange“ in das Suchfeld von Google eingegeben. Dort waren auch Tattoo-Symbole erklärt.
„Der Dolch ist in diesem Zusammenhang als Symbol der Rache beschrieben, das gerne in Verbindung mit einer Schlange verwendet wird.“ Rita erlitt einen Rückfall in ihren dozierenden Tonfall, an dem jedoch keiner der anderen beiden Anstoß nahm. Zu sehr waren sie vom Eifer gepackt. Arne sah die Gelegenheit, großzügig mit Lob zu hantieren. „Gut gemacht Frau Kollegin, immer am Ball des Fortschritts. Hattest du gestern Nachhilfe bei deinem Sohn?“
„Spar dir deine hilflosen Ablenkversuche, wirf lieber eine Hypothese in die Runde.“
„Gerne. Rache klingt gut, passt sogar in jede Krimiserie. Auch wenn es eine Theorie auf schwachen Füßen ist, sollten wir weiter überlegen. Oder hat jemand eine andere Idee?“ Ohne die sowieso nicht erwartete Antwort setzte er mit entschlossener Stimme fort. „Wir wissen sicher, dass es zwischen Joachim Walter und der toten Frau eine Verbindung gibt. Entweder kannten sich die beiden direkt oder über eine dritte Person.“
„Soll ich helfen?“, warf Siegfried ein, dem das Argument der Rache sichtlich gefiel. „Da schmückt sich also die Frau mit einem Symbol, das wir als Rachesymbol ansehen. Offenbar hat sie das bewusst getan. Und der Bürgermeister hat dasselbe, nicht gerade alltägliche Symbol als Foto in seinem Arbeitszimmer. Vielleicht hat er das sogar von ihr bekommen, ohne die Bedeutung zu kennen?“
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