„Danke für das Nichterinnern.“
„Ich meine es nur gut, für … uns alle. Zurzeit wissen wir, woran wir mit unseren Leuten sind und müssen daraus das Beste machen. Damit wir uns nicht irgendwann alle in Greifswald oder Anklam wiederfinden. Obwohl unser Gebäude ganz neu ist.“
Mit erhobenem Daumen verließ Hartmut Westphal das Zimmer. Arne Bock überlegte, wie ernst sein Chef diese Aussage gemeint haben könnte. Das hätte natürlich auch Konsequenzen für ihn selbst. Er musste unbedingt den Druck erhöhen.
Wir brauchen Ergebnisse. Erschrocken merkte Arne, dass er die Worte seines Chefs laut vor sich hin sprach.
Aber der hatte Recht.
9 Freitag, 2. November, 9.15 Uhr
„Nun, auch das akademische Viertel ist verstrichen, lassen Sie uns beginnen“, eröffnete Museumsdirektor Werner Petersen die Beratung. Er schaute sich mit registrierendem Blick im Kreis der Teilnehmer um. Die unbequemen hölzernen Stühle im kleinen Beratungsraum des Museums hatte Petersen selbst ausgewählt, sie sollten auf diese Weise endlose Diskussionen zumindest eindämmen. Der Blick aus den Fenstern zum Innenhof zeigte eine schwarz-weiß gefärbte Originalrakete A 4.
„Unser neuer Bürgermeister Joachim Walter hat seine Teilnahme zugesagt, er muss wohl durch etwas Wichtiges verhindert sein. Und unsere schwedische Kollegin Frau Bergner hat sich entschuldigt?“, fragte Petersen in die Runde und sah den Verwaltungsleiter Bernd Hoffmann an. „Nein, ich habe keine Ahnung wo sie steckt“, kam sofort die Antwort.
Die Runde aus Museumsmitarbeitern, Kommunalvertretern und Mitgliedern des Museumsbeirates beriet erstmals über die Anforderungen, die im Mai des Folgejahres vor dem Museum stehen würden. Peenemünde hatte etwa ein halbes Jahr zuvor den Zuschlag für eine internationale Konferenz über Stätten der Raumfahrt und ihre Präsentation in der Öffentlichkeit erhalten.
Petersen blickte aufmerksam in die Runde. „Die Welt schaut auf uns, auf diesen Ort von Weltgeschichte. Ihnen brauche ich die Brisanz des Themas nicht erklären, den Spagat zwischen den Begriffen Technik und Verbrechen.“
In der Öffentlichkeit setzte sich zunehmend die Tendenz durch, Peenemünde ausschließlich als Synonym von Vernichtungswaffen zu betrachten. Hier war jedoch auch der Ort vieler technischer Entwicklungen, die später Eingang in den Alltag der Menschen gefunden hatten. Das Thema war längst nicht so eindeutig geklärt, wie es sich Petersens Auftraggeber in Schwerin wünschten. Er vermied es, sich näher darüber auszulassen. Denn dadurch geriet man leicht auf ein Minenfeld.
Als Zeuge von Joachim Walters Konfrontation in Zinnowitz mit dem Thema Deich ging er in seiner Rede gleich in die Offensive, ehe ihm jemand aus dem Teilnehmerkreis zuvor kommen konnte.
„Ich möchte es nicht versäumen, meine persönliche Meinung zum Thema Deichrückbau anzufügen. Wer Hand an den Deich legt, würde nicht nur ein wichtiges Denkmal beschädigen, er würde auch die Zukunft des Museumsstandortes Peenemünde bewusst aufs Spiel setzen. Das ist ein bedeutender Schwerpunkt in der Förderpolitik der Landesregierung. Eine Schwächung Peenemündes würde dem klar widersprechen. Vom gesunden Menschenverstand ganz abgesehen.“
Auf die Befürchtungen des ebenfalls anwesenden Reinhard Henkelmann über die weit vorangeschrittenen Pläne dazu ging Petersen mit keinem Wort ein.
In diesem Moment öffnete sich leise die Tür. Das unvermeidliche Quietschen zog die Blicke aller auf die Person, die den Raum betrat.
Es war Pia Bergner, die mit schuldbewusster Miene einen freien Platz suchte und sich verlegen setzte. „Ich bitte um Entschuldigung, ich hatte einen kleinen Unfall mit dem Auto, deshalb diese Verzögerung.“
„Ich hoffe, Ihnen ist nichts passiert?“, erkundigte sich Werner Petersen und musterte die junge Frau.
„Nein, nein, nur ein Blechschaden, aber die Polizei musste alles aufnehmen, ich bin ja keine deutsche Staatsbürgerin.“
„Stimmt, war mir gar nicht mehr bewusst, im heutigen Europa der Regionen“, gab Petersen zurück.
Pia hatte sich immer noch nicht ganz von dem Zwischenfall erholt. Zunächst war sie jedoch gespannt darauf, sich die Redebeiträge der Tagungsteilnehmer anzuhören. Doch sie wurde enttäuscht davon, dass die Komplexität des Themas von politisch korrekten und austauschbaren Aussagen zur Bedeutung Peenemündes als Ort von Kriegsverbrechen überdeckt wurde. Sie sah es jedoch als Herausforderung für die eigene Beschäftigung mit diesem interessanten Thema.
Ihre Gedanken gingen auf Wanderschaft. Berührten die Kindheit in der Kleinstadt nahe der Ostseeküste, das Verhältnis zu ihrer Mutter, den allmählichen Übergang von der schutzbedürftigen Schülerin bis zum schützenden jungen Mädchen, die Einsicht, dass die Mutter mit dem Leben immer weniger zurechtkam, ihre Entscheidung, sie in einem wichtigen Augenblick allein zu lassen.
In einem für Pia wichtigen Augenblick.
Und schließlich zum Sterbebett ihrer krebskranken Mutter zu Beginn dieses Jahres, in der Heimat, viel zu früh für beide. Zumindest nutzten sie die Chance zur Versöhnung zweier Lebenden, die beide jahrelang vor sich hergeschoben hatten.
Pia erinnert sich an die beiden kleinen Schwarz-Weiß-Fotos von ihrer Mutter. Erst in ihren letzten Stunden hatte sie sich offenbart und ihr lange gehütetes Geheimnis preisgegeben.
Eines der Fotos zeigte ihre Mutter im Alter von siebzehn Jahren, das andere einen jungen Mann in der Uniform der Nationalen Volksarmee der DDR, dessen Gesicht aber nur undeutlich zu erkennen war. Auf der Rückseite des Fotos stand ein Name.
Von diesem Tag an hatte sich der Name in Pias Gedächtnis verankert. Sie wollte sich nicht mit der Tatsache abfinden, dass sie mit dem Tod der Mutter nun allein in der Welt wäre. Pia hatte sich ganz fest vorgenommen, ihren Vater zu finden. Überrascht bemerkte sie danach außerdem eine fast unmerkliche emotionale Wiederannäherung an ihre deutsche Heimat. Den Hauptgrund für ihre Flucht nach Schweden gab es nicht mehr – die gewollte Distanz zu ihrer Mutter. Eine Internetrecherche nach dem Namen auf der Rückseite des Fotos ergab eine Vielzahl von Treffern, allerdings war bei den wenigsten die Altersangabe dabei, als wichtigstes Kriterium für den Erfolg der Suche. Unter den Orten mit einer Person dieses Namens war auch das Ostseebad Karlshagen, südlicher Nachbarort von Peenemünde. Pia sah das als zusätzliche Motivation für ihren Aufenthalt.
Als sie ankam, wurde sie schon nach kurzer Zeit mit dem gesuchten Namen konfrontiert. Er war in der Region allgegenwärtig, wie Pia dem Studium der lokalen Presse entnehmen konnte. Weil es aber ein weit verbreiteter Name war, behielt Pia ihre Skepsis. Zu hohe Erwartungen würden bei Nichteintreten zu großer Enttäuschung führen. Diese Erfahrung hatte ihr schon in mehreren Lebenssituationen geholfen.
Aber gegen die sich einschleichende Hoffnung war sie machtlos. Nicht zuletzt, weil das Alter, das aus einem unerfindlichen Grund in der deutschen Presse zu allen genannten Personen angegeben wird, ziemlich genau passte.
Die markante Stimme von Werner Petersen ließ Pia aufschrecken. Ihre geistige Abwesenheit war aber wohl verborgen geblieben. Nach den folgenden Worten des Direktors richteten alle Teilnehmer ihre Blicke voller Spannung nach vorn.
„Zum Abschluss noch ein offenes Wort zum Zeitpunkt der Konferenz. So mancher hätte sich vielleicht einen Termin in der Nähe eines Jubiläums gewünscht.“ Petersen unterbrach seine Rede und blickte prüfend in die Runde. Nachdem er wissendes Schweigen konstatierte, setzte er fort. „Wie ich sehe, ist Ihnen die Reaktion rund um den 3. Oktober 1992 noch geläufig und ich brauche nichts hinzuzufügen.“
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