Die Trommeln der Freiheit
„Regen, nichts als Regen. Ich wandle unter freiem Himmel, sehe kein Licht in der stockfinsteren Nacht. Die Straße liegt vor mir, über mir greifen die Äste der Bäume nach meinen Gedanken. Endlos scheint die Fahrbahn, und ich bin frei wie der laue Wind, der sanft mein Gesicht umspielt. Die Zeit fließt wie zäher Gummi dahin, vorbei an mir, wie das Haus auf der linken Seite meinem Blick entschwindet. Kein Licht schimmert hinter den Fenstern hervor, alles ist still. Ich höre nur das Rauschen von Abermillionen Wassertropfen, welche sich ihren Weg vom Himmel bahnen, auf das dichte Blätterdach der Bäume fallen und schließlich auf die Erde niederstürzen. Dazwischen bewege ich mich, werde getroffen, werde nass. Ich spüre es nicht. Mein Bett steht heute Nacht verlassen, denn ich denke nicht an Schlaf. Vor mir liegt die Landstraße wie ein schwarzes Band in der Dunkelheit, umsäumt und beschützt von Bäumen links und rechts. Ein pfeilschneller Schatten bewegt sich neben mir, und ich schrecke aus meinen Gedanken empor. Doch es war nur ein weit entfernter Blitz, der meinen ständigen Begleiter für einen Sekundenbruchteil auf den nassen Asphalt geworfen hat. Sonst umhüllt mich Stille, nichts als Stille, die kein Licht mir spendet, in der stockfinsteren Nacht.“
Der Mond leuchtete wie eine silberne Scheibe am Himmel und tauchte die schlafende Erde in ein geheimnisvolles Licht. Ein sanfter Wind strich durch die Bäume und Sträucher. Das Rauschen der Wipfel übertönte die allgegenwärtigen Geräusche des nächtlichen Waldes im Süden der Stadt Little Rock in Arkansas. Von einer Siedlung her drang das Bellen eines Hundes durch die klare Luft und vermischte sich mit dem Rascheln von bunten und abgestorbenen Blättern auf der Erde. Der Sommer ging zu Ende, und der herannahende Herbst schickte seit ein paar Wochen schon seine Vorboten ins Land. Aus einer nahegelegenen Flussniederung stieg Bodennebel empor. Er hüllte das kleine, verwitterte Ziegelhäuschen am Rande eines stillgelegten Bahndamms ein. Die alte Hütte trotzte seit unzähligen Jahren den unberechenbaren Gewalten der Natur. Obwohl das helle Licht des Mondes direkt durch ein schmutziges, von feinen Spinnweben benetztes Fenster schien, brannten Dutzende von Teelichtern in der aus einem einzigen Raum bestehenden Kate und verdrängten die dunklen Schatten der Finsternis. Die kleinen Lichter standen überall, auf dem maroden Dielenfußboden, dem schiefen Tisch und einem ebenfalls grob gezimmerten Schemel, welcher eher einer etwas zu groß geratenen Fußbank, als einem Stuhl glich. Der Schlafplatz verdiente in keiner Weise die Bezeichnung Bett. Da in dem Häuschen schon seit Jahrzehnten niemand mehr wohnte, stand die spartanische, von unzähligen Holzwürmern zerfressene Einrichtung noch immer so an ihrem Platz, wie sie einst zurückgelassen wurde. An der hinteren Seite der Behausung, dort, wo es kein Fenster gab, lagen insgesamt acht uralte, staubige Strohballen in einer Zweierreihe nebeneinander geschichtet. Über dem improvisierten Schlafplatz lag eine ausgebreitete Plüschdecke, auf der ein junges Pärchen in enger, vertrauter Umarmung ruhte. Der eigentliche Zauber der Nacht war erloschen, doch die beiden lagen stumm nebeneinander und genossen die Erinnerungen an ihr gemeinsames Wiedersehen. Keiner der beiden traute sich, die Magie des Augenblicks durch Worte zu zerstören, denn viel zu selten war es ihnen vergönnt, sich ungestört und ohne zeitlichen Druck ihren Gefühlen zueinander hinzugeben. Der junge Mann lag an der weiß getünchten Wand und umklammerte das Mädchen in beinahe verzweifelter Ohnmacht. Er suchte die Hand seiner Geliebten. Als er sie fand, hielt er sie fest umklammert. Das junge Paar war beinahe nackt. Nur eine weitere Decke schützte es vor der Kühle der Septembernacht. „Ich frage mich seit Wochen, wie es mit uns weitergehen soll“, rief das zierliche Mädchen und löste sich nun sanft, aber bestimmt, aus den starken Armen ihres Freundes. Sie spürte, dass die Nacht vorbei war, sobald sie diese Worte ausgesprochen hatte, ebenso wie sie wusste, dass dieses Thema wie ein Damoklesschwert über ihre Verbindung schwebte. Dennoch wollte sie klare Verhältnisse, und so richtete sie sich auf, zog sich die Decke über ihre Brust und sah ihren Liebhaber in die Augen. „Ich möchte bei dir bleiben, Hank“, fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort, als er seine Hände hinter dem Kopf verschränkte, schweigend die nach Holz und muffigem Stroh riechende Luft einatmete und zum spitz zulaufenden Dach des morschen Ziegelbaus hinaufblickte. „Ich liebe dich, seit wir uns vor zwei Jahren zum ersten Mal begegnet sind! Ich will dich nicht immer wieder neu entdecken müssen, nur, weil wir uns manchmal monatelang nicht sehen!“ „Du weißt, dass es nicht geht“, erwiderte Hank ein wenig schroff. „Wir haben doch schon tausend Mal darüber gesprochen!“ „Aber deine Begründungen kann ich nicht akzeptieren! Warum trennst du dich nicht endgültig von ihr? Wir könnten ganz neu anfangen! Lass und ein Haus kaufen, irgendwo dort, wo uns keiner kennt! Nur du und ich! Nur wir beide!“ Nun richtete sich auch Hank auf. Er strich dem Mädchen eine dunkle Haarsträhne hinter das Ohr und küsste sie sanft auf den rechten Oberarm. „Wir haben kein Geld“, erwiderte er. „Ich kann geradeso die Miete für unsere Wohnung in Chicago bezahlen! Liz kümmert sich um die Kinder, und kleine Mädchen kosten nun mal eine Menge Geld!“ In Pipers Augen blitzte es wütend auf. „Natürlich kosten sie Geld“, zischte sie verächtlich. „Geld, das ganz allein du verdienst, während dein Püppchen viel lieber um die Häuser zieht und jede Woche eine andere Macke heraushängen lässt! Auf welchem Trip ist sie denn diesmal, Hank? Ein neuer Club in der Stadt? Ein neuer Busen? Ein anderes Make-up? Das Fitnessstudio? Elisabeth sollte sich lieber um einen anständigen Job kümmern, anstatt deine Kohle für Dinge zu verpulvern, von denen du überhaupt nichts hast!” Piper redete sich richtig in Stimmung. Sie stand auf, verhüllte ihre Blöße mit der Decke und ließ Hank, der nur mit Boxershorts bekleidet war, auf dem Lager zurück. Die junge Frau balancierte barfuß zwischen den Teelichtern und achtete darauf, dass kein Zipfel der Decke mit den kleinen Flämmchen in Berührung kam. Sie suchte nach ihren Kleidern, die in einem wilden Knäuel auf dem morschen Bretterfußboden verstreut lagen, und begann, sich hastig anzuziehen. „Du gehst rund um die Uhr schuften und kommst trotzdem einfach nicht mehr über die Runden! Wohlgemerkt hast du keine Ahnung, wie lange du deine Stelle im Supermarkt noch haben wirst, weil der Discounter vor etwas mehr als drei Wochen haarscharf an einer Pleite vorbei gerasselt ist und drastische Stellenkürzungen vorgesehen sind! Du regst dich pausenlos über deine derzeitige Lebenssituation auf, bist mit der Erziehung der Kinder nicht einverstanden und ziehst viel lieber allein von Party zu Party, anstatt irgendetwas an eurer Beziehung zu retten, was noch zu retten ist! Hab ich was vergessen? Oh ja, natürlich! Wie konnte ich nur? Weil du doch ein so überaus rücksichtsvoller Mensch bist, willst du meiner späteren Karriere in Vancouver keinesfalls im Wege stehen! Weißt du, als du noch mit deinem 40-Tonner unterwegs gewesen bist, warst du ein anderer Mensch, Hank! Du hast dich verändert, aber damit tust du niemanden einen Gefallen! Am Allerwenigsten dir selbst!“ Piper hatte sich fertig angezogen. Sie schlüpfte gerade in ihre Turnschuhe und band sich das lange Haar zu einem einfachen Zopf zusammen, als nun auch ihr Liebhaber aufstand und seine Sachen aufsammelte. Er fühlte sich in seiner Ehre als gestandener Mann gekränkt und baute sich vor dem Mädchen auf. Obwohl er Piper lange genug kannte und sehr schnell von ihrer impulsiven Art in den Bann gezogen wurde, kam er nicht umhin, ihre Argumente mit großer Überzeugung zu widerlegen: „Du stellst dir immer noch alles so einfach vor, Speedy! Du bist einundzwanzig Jahre alt, ich bin sieben Jahre älter! Die alte Mrs.
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