»Hast du das damals mit achtzehn alles einfach so hingenommen?«
»Von wegen, ich habe meinen Eltern die Hölle heiß gemacht. Dass sie mich all die Jahre betrogen haben, schrie ich. Zu einer Freundin bin ich gezogen und wollte nie wiederkommen. Da war was los, sage ich dir.«
»Kommt mir irgendwie bekannt vor. Ben scheint ganz nach dir zu schlagen.«
»Du meinst, weil er zu Karen und Herbert geflüchtet ist, um bei ihnen zu wohnen? Der Vergleich hinkt etwas, denn unser Filius fühlte sich nur unverstanden. Dabei weiß er noch nicht einmal, dass Karen nicht seine richtige Oma ist.«
»Du hast es ihm verschwiegen?«
»Ja, was hätte sich geändert? Sollte ich ihm sagen, dass seine leibliche Oma mich nicht haben wollte und er deshalb beinahe nie geboren worden wäre? Wenn er achtzehn ist, kann er es erfahren.«
»Damit handelst du genauso wie Karen …«
»Man ist eben immer das Produkt seiner Eltern. Wobei für ihn die Konsequenzen weniger dramatisch sind als für mich damals.«
»Hast du nie den Wunsch gehabt, der Wahrheit auf den Grund zu gehen? Ich meine, du hast nur die Aussage deiner Eltern …«
»Nein, seit meinem achtzehnten Geburtstag nicht mehr. Wahrscheinlich lebt ohnehin niemand mehr von der Familie. Nur heute habe ich kurz überlegt, ob ich mich Karen und Herbert anschließen sollte. So würde ich wenigstens mal das Grab meiner leiblichen Mutter sehen können.«
Hinnerk war tief in Gedanken versunken und unterließ jeglichen Kommentar.
»Du sagst ja gar nichts. Den unsäglichen Baby-Fall können doch du und Lars allein lösen. Ich habe mir einen Urlaub mehr als verdient.«
»Das wird niemand bestreiten … Wenn es denn einer wird … Was, wenn du etwas herausfindest, das du absolut nicht erwartest?«
»Ich bin schon mit ganz anderen Sachen fertiggeworden. Was mich nicht umbringt, macht mich stärker. Oder glaubst du, ich mache einen Fehler?«
Hinnerk ließ sich Zeit für seine Antwort.
»Folge deinem Instinkt, den ich immer wieder aufs Neue bewundere. Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt, mit der Vergangenheit abzuschließen.«
Valerie kuschelte sich in Hinnerks Arm.
»Manchmal weiß ich, warum ich dich so liebe«, sagte sie zärtlich. »Andere Kerle hätten versucht, es mir auszureden oder stundenlang das Für und Wieder ausdiskutiert.«
»Ich kenne doch deinen Dickkopf. Aber ich bewundere auch deinen Mut. Ich weiß nicht, wie ich an deiner Stelle handeln würde.«
»Genauso. Du kannst es ebenso wie ich nicht ertragen, wenn die Dinge nicht im Reinen sind. Alles muss Hand und Fuß haben. Vorher gibst du keine Ruhe.«
»Komm, versuch noch ein bisschen zu schlafen! Nicht dass Lieschen und Lars denken, wir hätten die Nacht durchgebumst.«
»Warum eigentlich nicht? Gute Idee, Herr Lange.«
»Frau Voss, wie undamenhaft …«
Weiteres Geplänkel der unkeuschen Art ging in einem leidenschaftlichen Kuss unter, dessen Fortsetzung nichts zu Wünschen übrig ließ. Die Nacht wurde jedenfalls sehr kurz.
Die dunkelhaarige, hochschwangere Frau stöhnte vor Schmerzen und hielt sich ihren stark gewölbten Leib.
»Was ist mit dir, Donka?«, fragte Ilana, eine Brünette mit herben Zügen, die ebenfalls aus Bulgarien kam und den Entschluss, sich auf dieses unsaubere Geschäft einzulassen, längst bereute. »Glaubst du, die Wehen haben schon eingesetzt?«
»Nein, das kann nicht sein. Es ist noch zu früh.«
»Hallo, meine Freundin braucht einen Arzt. Irgendetwas stimmt nicht!«, rief Ilana auf den Flur hinaus.
Es dauerte eine Weile, bis ein grobschlächtiger Mann mit brutalen Gesichtszügen aus einem der anderen Zimmer kam.
»Mach hier nicht so einen Lärm«, sagte er auf bulgarisch, »du alarmierst ja die gesamte Nachbarschaft.«
»Das ist mir egal. Donka muss in ein Krankenhaus.«
»Die Entscheidung liegt nicht bei dir. Sie soll sich nicht so haben, Millionen anderer Frauen haben schon Kinder gekriegt. Nachher kommt der Doktor, bis dahin gib ihr die Schmerztropfen.«
»Die helfen doch nicht, wie du siehst. Und dieser Viehdoktor hat keine Ahnung. Wahrscheinlich hat er noch nie eine Frau entbunden.«
»Was ist hier los?«, fragte ein kaum weniger unsympathisch wirkender Deutscher, der plötzlich in der Tür stand.
»Sie macht ein bisschen Theater. Ich regle das schon«, meinte der Bulgare.
»Ihr habt hier alles, was ihr braucht. Also hört auf zu jammern.« Der Deutsche setzte eine Furcht erregende Miene auf. Seine Augen bekamen ein böses Glitzern. »Wer hier nicht spurt, wird auf die Straße gesetzt. Dann könnt ihr sehen, wo ihr bleibt. Das Balg könnt ihr dann im Rinnstein gebären. Und Geld gibt es natürlich auch keins.«
Der Bulgare übersetzte, woraufhin ein aufgeregtes Gemurmel unter den Frauen aufkam. Jeder Fleck des Raumes in der schäbigen Plattenbauwohnung war nämlich für Etagenbetten genutzt worden. In den unteren lagen Hochschwangere wie Donka Kirilowa. Die oberen Betten nutzten Frauen, deren Niederkunft erst nach Wochen erfolgen sollte. Andere saßen an dem einfachen Resopaltisch vor dem Fenster auf wackligen Holzstühlen und schlangen appetitlos ihr Essen herunter. Die Aussicht konnten sie dabei nicht genießen, denn die abgewetzte Jalousie war so justiert, dass nur etwas Licht hereinfiel, aber ein Sichtschutz, vor allem von außen, garantiert war.
Die beiden Männer hatten zum Teil sogar für den Zustand der Frauen gesorgt. Sie waren dabei mit grenzenloser Brutalität vorgegangen, sodass die Frauen fürchteten, der Vorfall könne sich wiederholen, wenn die Gier der Männer erneut Oberhand gewinnen würde. Die Sorge war eher unberechtigt, denn die Kerle schienen jegliches Interesse an den Schwangeren verloren zu haben. Bis auf Petar, bei dem konnte man nie wissen, was ihm als Nächstes in den Sinn kam. Vor allem, wenn Alkohol im Spiel war.
»Du bist doch immer für eine Überraschung gut«, sagte Karen, als Valerie ihr mitteilte, mit nach Schweden fliegen zu wollen. »Wir haben schon vor Wochen die Flüge gebucht, und eine Hotelreservierung war auch nicht so einfach zu bekommen. Es war nicht so leicht, einen relativ günstigen Flug zu erhaschen, denn weder Herbert noch ich haben Lust elf Stunden in der Maschine zu sein und zig Mal umzusteigen. Die rufen zweitausend Euro und mehr für einen einstündigen Flug ohne Zwischenstopp inklusive Hotelbuchung auf. Und selbst da hätten wir von Kopenhagen mit dem Zug nach Malmö fahren müssen. Ein Preis, den wir nicht bereit sind zu zahlen. Jetzt fliegen wir für fünfhundert Euro, landen in Malmö Sturup und haben uns selber ein Hotel gesucht. Allerdings sind wir über sieben Stunden unterwegs, weil wir in Frankfurt und Stockholm umsteigen müssen.«
»Und auf welches Hotel ist eure Wahl gefallen?«
»Wie hieß das noch? Herbert, wo wohnen wir in Malmö?«
»Im Scandic Kramer. Der historische Bau stammt aus dem 19. Jahrhundert und sieht aus wie ein weißes englisches Schloss«, sagte Herbert Schindler. »Noch dazu liegt es sehr zentral nur fünf Minuten vom Hauptbahnhof entfernt.«
»Dann werde ich versuchen, dort auch unterzukommen. Oder ist es euch lieber, wenn ich woanders wohne?«
»Sei nicht albern. Ich fürchte nur, so kurzfristig wirst du kein Glück haben. Ganz zu schweigen vom Flug«, insistierte Karen.
»Ich muss dich enttäuschen, der Flug ist schon reserviert, und das Hotelzimmer wird auch noch klappen. Aber man könnte meinen, du willst mich nicht dabei haben …«
»Ja, Liebste, da muss ich deiner Tochter Recht geben. Es hört sich fast so an«, sagte Herbert.
»Ach, ihr seid ja beide verrückt. Ich frage mich nur, wie es dir gelungen ist, frei zu bekommen. Wo du doch sonst unabkömmlich bist …«
»Hinni und Lars werden mich gut vertreten. Das hat sogar mein Chef Paul Schütterer eingesehen. Vor allem, weil ich diesmal wirklich privat fliege, und nicht undercover in einem Mordfall ermittle.«
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