»Ich finde es nicht normal, wenn sich eine junge Frau mit einem Teenager abgibt. Ich habe in ihrem Alter für ältere, reifere Männer geschwärmt … Alles unter zwanzig war mir viel zu grün.«
»Und sie sieht vielleicht in Ben den jüngeren Bruder, den sie nie hatte. Gönn ihr doch das Vergnügen.«
»Störe ich?«, erklang eine Stimme von der Wohnzimmertür her.
»Ben, wir haben dich gar nicht kommen hören …«
»Das glaube ich gerne, so eifrig, wie ihr diskutiert habt. Aber ich kann euch beruhigen. Heute Abend war ich nicht mit Lili zusammen, sondern mit Merle. Und sie wird heute hier übernachten, falls ihr nichts dagegen habt.«
»Das ist schon in Ordnung, mein Sohn. Ich hoffe, du denkst daran, dich zu schützen«, lächelte Hinnerk.
»Ich kann inzwischen einen Laden mit Kondomen aufmachen. Also keep cool, Dad.«
»Ich werde wohl nicht gefragt?«, sagte Valerie ärgerlich.
Am nächsten Morgen lief eine halbnackte Merle durchs Haus. Unter ihrem dünnen Hemdchen trug sie offensichtlich keinen BH und auch kein Höschen. Dieser Umstand zauberte Hinnerk ein Lächeln ins Gesicht, während sich bei Valerie eine kleine Zornesfalte zwischen den Augenbrauen bemerkbar machte.
»Wollt ihr nicht lieber herunterkommen und mit uns frühstücken?«, rief sie dem freizügigen Mädchen hinterher, als es mit zwei Gläsern Orangensaft Kurs auf Bens Zimmer nahm.
»Danke, sehr freundlich, aber wir wollen noch ein wenig kuscheln. Frühstück ist eh nicht so unser Ding. Meins nicht, und Bens auch nicht.«
»Ach ja, seit wann? Aber ihr denkt schon daran, dass bald die Schule anfängt?«, fragte Valerie etwas zu schrill.
»Ehrensache … Nur ein Viertelstündchen.«
»Ich glaube wirklich, es ist besser, dass unser Filius sich bald eine eigene Bude sucht«, sagte Hinnerk, »auf Dauer halten das deine Nerven nicht aus.«
»Seit wann sorgst du dich um den Zustand meiner Nerven?«
»Immer, Schatz, immer.«
Das Geplänkel wurde durch das Läuten des Telefons unterbrochen.
»Lange, guten Morgen«, meldete sich Hinnerk gutgelaunt. »Wie? Sag das noch mal … Verdammte Sauerei, aber öfter mal was Neues … Einer von uns beiden ist gleich da.«
»Wieso einer von uns? Warum fahren wir nicht gemeinsam?«, hakte Valerie nach.
»Ich halte es für besser, wenn ich fahre. Ich nehme auch meinen Privatwagen, damit du mit unserem Dienstwagen die Herrschaften …« Er deutete mit dem Finger nach oben. »… in die Schule fahren kannst.«
»Einen Scheiß werde ich. Sollen sie doch die Räder oder die BVG nehmen. Mir egal, wenn sie zu spät zum Unterricht kommen.«
»Spüre ich da einen akuten Anfall von Eifersucht?«
»Nein, ich bin nur nicht der Sklave meines Sohnes. Wer die Nacht durchsumpft, kann auch rechtzeitig aufstehen.«
»Diese Merle wird sich bedanken, als Sumpf bezeichnet zu werden.«
»Das hat sie umsonst. Warum willst du unbedingt fahren? Wir könnten es doch auch andersherum machen …«
»Ich möchte deine eben zitierten Nerven schonen. Es handelt sich nämlich um die Leiche eines Säuglings, die man in der Spree gefunden hat.«
»Vielen Dank, aber ich musste im Laufe der Jahre schon viele Scheußlichkeiten betrachten, da kommt es auf eine mehr oder weniger nicht an. Nein, ich möchte, dass du die Kinder mitnimmst.« Valerie sagte mit Absicht Kinder , denn bisher ignorierte sie hartnäckig die bevorstehende Volljährigkeit ihres Sohnes. Für sie war Ben noch immer der kleine unreife Bengel, der sie so manches Mal um den Schlaf gebracht hatte.
»Gut, wenn du meinst, aber beklag dich nachher nicht. Lars ist schon unterwegs. Du musst zur alten Kongresshalle, unten, wo das Café ist.«
Am Spreeufer erwarteten Valerie ein unausgeschlafener Lars Scheibli, die Rechtsmediziner Tina Ruhland und Knud Habich und das Team der Spurensicherung.
»Wie siehst du denn aus? Hast du gefeiert?«, zog Valerie ihren Kollegen Lars auf. »Und deine Frisur könnte auch mal wieder einen Ölwechsel vertragen.«
»Danke, du mich auch. Du brauchst ja deine silberblonde Pracht nur mit einem Gummi zu bändigen. Wie dein holder Gatte auch. Kauft ihr die Gummis eigentlich im Dutzend?«
»Nur kein Neid. Es hindert dich niemand daran, auch wachsen zu lassen.«
»Das fehlte mir noch. Obwohl, dann könnte ich mir wenigstens ordentlich die Haare raufen, wenn mal wieder an Schlaf nicht zu denken ist, weil klein Oliver zahnt.«
»Da musst du jetzt durch. Wir können gerne tauschen. Ben schläft sich gerade durch alle Betten. Wie heißt es so schön? Kleine Kinder – kleine Sorgen, große Kinder – große Sorgen.«
»Ich unterbreche ja ungern eure Elterngespräche«, sagte Tina, für die die ehemalige Liaison mit Valerie inzwischen kein Thema mehr war, da sie seit Jahren mit Staatsanwältin Ingrid Lindblom glücklich sein durfte.
Trotzdem konnte Tina es nicht lassen, hin und wieder ein paar Spitzen zu werfen wie eben mit der Elternschaft, denn sie verstand bis heute nicht, warum Valerie ihre goldene Freiheit aufgegeben und seinerzeit Hinnerk geheiratet hatte. Nach der Scheidung wegen Hinnerks Hinwendung zu Marion Haberland hatte Tina anfangs gehofft, zwischen ihr und Valerie könne es wieder so werden wie einst. Doch weit gefehlt. Nach Marions Unfalltod war Hinnerk wieder zu seiner Familie gezogen und lebte seit Jahren mit Valerie in wilder Ehe.
»Vielleicht ist einer von euch daran interessiert, was hier gefunden wurde …«, sprach Tina weiter.
»Tina, dein Humor so kurz nach dem Aufstehen ist nach all den Jahren immer noch gewöhnungsbedürftig«, sagte Valerie tadelnd, »also spuck schon aus, was du weißt.«
»Das kleine Mädchen, zirka sechs Monate alt, ist wie ein Paket verschnürt ins Wasser geworfen worden. Todesursache auf Anhieb nicht erkennbar. Ein sexueller Missbrauch scheint nicht stattgefunden zu haben.«
Valerie trat näher an den ausgewickelten kleinen Leichnam heran. Ehe sie sich versah, kamen ihr die Tränen, als sie das niedliche Baby mit der blassen, aufgequollenen Haut und den steifen, winzigen Fingerchen sah. Auch Lars hatte feuchte Augen, weil er sich bestimmt gerade vorstellte, wie es wäre, wenn dort sein kleiner Sohn liegen würde.
»Welche Dreckschweine haben das gemacht?«, fragte er erschüttert.
»Da gibt es viele Möglichkeiten«, sagte Knud. »Eine minderjährige Mutter, die kein Verhältnis zu dem Kind aufbauen konnte, Entführer, die nur auf das Geld scharf waren oder ein Babyhändler, dem der Säugling unter den Händen weggestorben ist.«
»Danke für die kurze Zusammenfassung. Wenn du die Rechtsmedizin mal leid bist, kannst du bei uns als Ermittler anfangen«, antwortete Valerie bitter.
»Kein Bedarf, mir sind tote Menschen lieber als lebendige Verbrecher.«
Lars suchte das Gespräch mit Manfred Hoger von der Spurensicherung.
»Habt ihr schon was Brauchbares gefunden?«, wollte er wissen.
»Nicht wirklich, tagsüber wimmelt es hier von Touristen, und es ist anzunehmen, dass es sich hier nur um den Fundort handelt. Das Paket dürfte Spree aufwärts ins Wasser geworfen und hier nur angetrieben worden sein.«
»Ja, das denke ich auch. Also können wir nur über die Identität des Kindes an den Täter herankommen«, meinte Lars, »uns bleibt nichts anderes übrig, als gleich im Präsidium die Vermisstenkartei zu durchforsten.«
»Na, geht’s wieder?«, fragte Valerie, die inzwischen ihre Tränen getrocknet hatte, Lars.
»Ja, bei Kindern ist es immer besonders schlimm. Sie sind noch so unschuldig und hätten noch ihr ganzes Leben vor sich gehabt. Und jetzt, wo ich selber Papa bin, trifft es mich bis ins Mark.«
»Ich weiß, mir geht es auch so. Ich wollte dir schon immer mal sagen, dass ich es großartig finde, wie das mit dir und Anna läuft. Stell dir vor, sie wäre damals nicht unter den Pflegekräften des Heimes gewesen, dann bliebe dir bei der Erinnerung an deinen mutigen Undercovereinsatz nur, dass man dich um ein Haar ins Jenseits befördert hätte.«
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