»Stimmt, obwohl ich betonen muss, dort wirklich gern gearbeitet zu haben. Einen Moment habe ich mit dem Gedanken gespielt umzusatteln. Schließlich war es nur ein Verstörter, der dort als Todesengel sein Unwesen trieb. Alles andere war eigentlich okay. Entschuldige, dein Verhältnis zum Haus Abendrot ist ja eher zwiespältig.«
»So kann man es ausdrücken. Lange glaubte ich, mein Vater wäre dort mit seiner Demenzerkrankung gut aufgehoben. Doch bis heute weiß ich nicht, ob er auch zu den Opfern zählte. Ebenso wie Herbert Schindler, dem neuen Lebensgefährten meiner Mutter, dessen Frau bekanntlich dort auch gestorben ist. Aber er scheint es gelassener zu sehen und nicht daran interessiert zu sein, die wahre Todesursache zu erfahren.«
»Jeder geht eben auf seine Weise mit der Trauer um. Wie läuft es eigentlich zwischen den beiden alten Leutchen?«
»Sehr gut. Karen ist, glaube ich, ganz glücklich mit ihm. Nur dass nach Cäsars Tod mit Cleo wieder ein Hund ins Haus gekommen ist, gefällt ihr weniger. Nicht dass sie keine Hunde mag, aber sie dachte wohl, nach dem Abschied von dem Labrador würde sich Herbert etwas mehr um sie kümmern. Mit ihr lange Reisen unternehmen und so weiter.«
»Sag mal, woher kommt eigentlich der seltsame Vorname deiner Mutter? Zuerst dachte ich, mich verhört zu haben und dass sie Karin heißt. Hat sie amerikanische Wurzeln?«
»Nein, sie ist in Schweden aufgewachsen. Ich wäre beinahe auch ein echtes Schwedenmädel geworden, aber meine Eltern haben es vorgezogen, nach Deutschland zu gehen. Da war ich noch ein Baby. Allerdings was die Vergangenheit anbelangt, hält meine Mutter sich immer sehr zurück.«
»Interessant, wer hätte das gedacht! Dann sehen wir uns gleich im Präsidium, oder willst du noch bleiben?«
»Nein, ich denke, wir warten den Bericht von Tina ab. Erst dann wissen wir mehr.«
Der Bericht traf nach drei Tagen ein und enthielt folgende Informationen: Eine Erkrankung des Nervensystems, des Herzens und des Stoffwechsels konnten ausgeschlossen werden. Ebenso eine Blutvergiftung infolge einer Infektion, eine Hirnhautentzündung und eine akute Infektion der oberen Luftwege. Es lag auch kein Schütteltrauma, also eine Hirnblutung infolge heftigen Schüttelns vor.
Somit muss von einem SIDS - sudden infant death syndrome, dem plötzlichen Kindstod, also einem Herz- und Atemstillstand, der ohne erkennbare Ursache im Schlaf auftritt und zum Tod des Kindes führt, ausgegangen werden. Valerie war fassungslos. »Mir ist zwar bekannt, dass der plötzliche Kindstod in den Industrieländern eine der häufigsten Todesursachen im ersten Lebensjahr ist«, sagte sie, »aber statistisch betrachtet trifft es nur ein bis zwei von tausend lebend geborenen Kindern. An alles hätte ich bei „unserem“ Säugling gedacht, aber …«
»Soviel ich weiß, ist die Gefährdung zwischen dem zweiten und dem vierten Lebensmonat besonders hoch«, meinte Hinnerk, »das würde also passen. Allerdings sollen sich die meisten Todesfälle im Winter ereignen, und Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen. Das passt nicht.«
»Man sollte Statistiken nicht überbewerten … Was heißt das jetzt für uns? Dem Kind ist keine Gewalt angetan worden, auch keine sexuelle«, überlegte Valerie laut, »Somit bleiben die Entführung und der Babyhandel.«
»Du vergisst die Mutter«, insistierte Hinnerk, »es ist zwar ungewöhnlich, dass eine Frau ihr Neugeborenes entsorgt, indem sie es als Paket verschnürt ins Wasser wirft, aber …«
»Das ist der Punkt, Neugeborenes! Überforderte Mütter entledigen sich ihres Babys sofort nach der Geburt und warten nicht vier Monate.«
»Das überzeugt mich nicht. Ich stelle mir vor, eine Mutter findet ihr Kind leblos in seinem Bettchen auf. Aus Angst, ihr Mann könne ihr die Schuld geben, behauptet sie lieber, das Kind sei geraubt oder entführt worden. Das wäre nicht das erste Mal.«
»Hat es in der letzten Zeit Kindesentführungen gegeben?«, fragte Valerie Lars.
»Nein, zumindest keine Säuglinge.«
»Das heißt gar nichts. Es gibt immer wieder Eltern, die den Forderungen der Entführer nachkommen, indem sie die Polizei außen vor lassen.«
»Aber vor ein paar Tagen soll ein Baby in Moabit aus einem Kinderwagen geraubt worden sein. Ich finde, man kann durchaus eine Ähnlichkeit zu der Kinderleiche feststellen«, sagte Lars.
»Na, dann nichts wie hin zu den Eltern. Komm Hinni!«
»Und was mache ich?«, fragte Lars, »oder betrachtet ihr es wieder einmal als euren persönlichen Fall? Vielleicht darf ich darauf hinweisen, dass ich der Erste am Fundort war.«
»Wie so oft, werden wir den Fall gemeinsam lösen«, sagte Valerie. »Wenn dir langweilig wird, kannst du recherchieren, was du über neueste Fälle von Babyhandel in Berlin rausfindest. Marlies wird dir dabei unter die Arme greifen, nicht Schmidtchen?«
Die Kriminalassistentin Marlies Schmidt, als gute Seele der Abteilung liebevoll als Schmidtchen oder Lieschen tituliert, nickte. Seit ihrem letzten Einsatz als Lockvogel, der beinahe schief gegangen wäre, schätzte sie es wieder, nicht raus an die Front zu müssen. Ihr Mut und die Abenteuerlust hatten sie um ein Haar das Leben gekostet, zumal ihre Tarnung von dem Frauenmörder allzu früh erkannt worden war. Es hatte dann aber ihn getroffen, sogar im Sinne des Wortes, da ihn seine Geliebte aus tiefster Enttäuschung erschossen hatte.
»Wenn du es aber vorziehst, einer trauernden Mutter die Todesnachricht zu überbringen, können wir auch tauschen …«, sagte Valerie listig.
»Nein, nein, das kannst du wohl besser. Sozusagen von Frau zu Frau.«
Valerie war alles andere als wohl bei ihrer Mission. Einesteils war bekannt, dass Eltern, die ein Kind durch den plötzlichen Kindstod verloren hatten, zutiefst betroffen und völlig verunsichert waren. Meist war eine therapeutische Betreuung der Eltern unumgänglich. Für eine Mitverantwortung der Eltern gab es zwar keinerlei wissenschaftliche Anhaltspunkte, doch fühlten sich gerade Mütter für den Tod ihres Kindes verantwortlich und warfen sich vor, ihre Sorgfaltspflicht vernachlässigt zu haben, indem sie den plötzlichen Atem- und Herzstillstand nicht rechtzeitig bemerkten.
Andererseits konnte die Kripo nicht völlig ausschließen, dass die Entführung nur vorgetäuscht war. In Fernsehkrimis sah man oft genug, dass sich in Familien mitunter wahre Tragödien abspielten.
Denise Schönfelder war nur noch ein Schatten ihrer selbst, als sie Valerie und Hinnerk die Tür öffnete.
»Sie haben sie gefunden, nicht wahr?«, sagte sie tonlos, »ich weiß es schon seit Tagen, weil die innere Verbindung abgebrochen ist.«
»Es besteht noch eine Restchance, dass es sich nicht um Ihre Tochter handelt«, sagte Valerie, »wir würden Ihnen gerne ein Foto zeigen, falls Sie stark genug dafür sind. Andernfalls würde auch ein Gen-Test Aufschluss bringen …«
»Nein, zeigen Sie nur her. Ich muss der grausamen Wahrheit ins Auge blicken …«
Hinnerk reichte der Frau das Foto des toten Säuglings.
Denise brach augenblicklich in Tränen aus. »Ja, das ist meine kleine Leonie. Was hat man nur mit ihr gemacht? Warum ist sie so entstellt?«, stammelte sie.
»Vielleicht beruhigt es Sie etwas, dass ihrem Kind keine Gewalt angetan wurde«, sagte Valerie, »die Autopsie hat ergeben, Leonie ist am plötzlichen Kindstod gestorben.«
»Dann hat sie Gott sei Dank nicht leiden müssen. Sicher war die Ursache, dass man sie mir entrissen hat. Die Aufregung wird für das kleine Herz zuviel gewesen sein. Ich bin davon überzeugt, Babys bekommen viel mehr mit, als man denkt.«
»Das mag durchaus so sein. Trotzdem hätte sie der plötzliche Kindstod auch hier in ihrer vertrauten Umgebung ereilen können«, versuchte Valerie die gebrochene Frau zu trösten.
»Das halte ich für völlig ausgeschlossen. Einer Mutter entgeht doch nicht, wenn ihr Kind Atem- oder Herzprobleme hat.«
Читать дальше