Dietrich Novak
Gänzlich ohne Spur
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Inhaltsverzeichnis
Titel Dietrich Novak Gänzlich ohne Spur Dieses ebook wurde erstellt bei
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
Epilog
Impressum neobooks
Das etwa dreizehnjährige Mädchen wirkte beinahe gespenstisch, so bleich war seine Haut und so fahl sein Gesicht. Die Augen blickten glanzlos und schienen empfindlich gegenüber dem Sonnenlicht zu sein. Deshalb legte die Kleine, die für ihr Alter sehr zart war und von nur geringer Körpergröße, meist schützend ihre blasse Hand an die Stirn. Sie trug saubere Kleidung und wirkte nicht ungepflegt. Nur um ihren Mund gab es kleine Herpesbläschen, die das hübsche Gesicht etwas entstellten.
Alles schien neu für die Kleine. Das saftige Grün der Bäume, die bunte Blumenpracht in den Vorgärten und selbst der Himmel mit seinem sanften Blau. Fremden gegenüber verhielt sie sich scheu, fast ängstlich. Deshalb senkte sie verschämt den Blick, wenn ihr jemand begegnete. Aber in den schmalen Straßen des noblen Berliner Stadtteils Dahlem war ohnehin kaum jemand zu Fuß unterwegs. Falls mal ein Pkw kam, fuhr er meist sofort in die grundstückseigene Garage oder die Fahrerin – es waren in der Mehrzahl Frauen, die mit einigen Tüten vom Einkaufen kamen – parkte am Straßenrand, stieg schnell aus, holte die Einkäufe aus dem Kofferraum und verschwand dann sogleich in einem der Einfamilienhäuser, die in ihrer Größe und Bauweise durchaus Villencharakter besaßen. Für das scheue Mädchen hatte keine von ihnen einen Blick übrig.
Als es eine Weile ziellos umhergewandert war, kam es zu einem Haus mit weißem Fachwerk und dunklem Holz, das es staunend betrachtete. Wirkte es doch beinahe wie eines der Häuser, die in seinem alten zerfledderten Märchenbuch abgebildet waren. Dieser Eindruck verstärkte sich noch durch die Kassettendecke im Stile eines Rittersaals im Inneren des Gebäudes. Mechanisch lief die Kleine die Treppen nach unten, um zu sehen, ob es unten so prächtig weiterging. Doch da gab es nur einen schmalen Bahnsteig und rechts und links tiefer gelegene Schienen.
Das Mädchen erschrak heftig, als es die hölzerne Sitzgruppe sah, die aus drei hoch aufragenden stilisierten Personen bestand. Darüber befand sich ein weißes Schild, auf dem in schwarzen Lettern: Dahlem-Dorf stand. Noch einen größeren Schreck bekam es, als mit lautem Getöse ein orange-gelber Zug einfuhr, aus dem einige Leute ausstiegen, und aus dem Lautsprecher eine Ansage ertönte. Da kamen plötzlich Erinnerungsfetzen auf. Ja, mit so einem Zug waren Mama und Papa damals mit ihr gefahren, als sie noch alle zusammenlebten. Allerdings unter der Erde. Deshalb hieß es auch U-Bahn.
Als es an die Eltern dachte, die schon länger geschieden waren, musste das Mädchen plötzlich weinen. So viele Jahre waren sie schon getrennt, und immer hatte es gehofft, Mama oder Papa würden es irgendwann holen. Aber diese Hoffnung hatte sich nie erfüllt.
»Warum weinst du denn?«, fragte eine ältere Frau, die aus dem Zug gestiegen war. »Hast du dich verlaufen? Wo wohnst du denn?«
Das Mädchen zuckte die Achseln.
»Was denn, du weißt nicht, wo du wohnst? Bist du fremd in der Stadt? Womöglich einer von diesen Flüchtlingen? Aber nein, das kann nicht sein. Dazu hast du zu helle Haut.«
»Bitte lassen Sie mich«, sagte das Mädchen.
Die Frau ging kopfschüttelnd weiter.
Als der nächste Zug einfuhr, stieg es einfach ein und stellte sich auf der gegenüberliegenden Seite an die Tür. Sein unergründlicher Blick erfasste die vorbeihuschende Landschaft, als der Zug weiterfuhr. An der fünften Station stiegen Fahrkartenkontrolleure ein, die man mit ihrer zivilen Kleidung nicht sogleich einordnen konnte. Nach und nach gaben sie sich zu erkennen, indem sie sich auswiesen, und ließen sich die Fahrscheine oder –Karten zeigen. Als eine junge Frau zu dem Mädchen kam, ließ sie ihren üblichen Spruch ab.
»Den Fahrschein, bitte!«
Das Mädchen reagierte nicht.
»Sie haben keinen? Gut, steigen Sie bitte an der nächsten Station mit uns aus!«
Auf dem Bahnsteig verlangte die Kontrolleurin dann den Ausweis.
»So etwas habe ich nicht. Man hat mich entführt und jahrelang in einem Keller eingesperrt«, sagte das Mädchen tonlos.
5 Jahre zuvor
Der Mann war schon tagelang unterwegs, um seinen Plan zu Ende zu führen. Im Verlies war alles bereit für die kleine Bewohnerin, wie immer sie auch heißen mochte. Mit seinem Kombi war er die Straßen abgefahren, in denen sich jeweils eine der vielen Berliner Grundschulen befand. Bevorzugt richtete er dabei sein Augenmerk auf die Bezirke, die möglichst weit von seinem Wohnort entfernt lagen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, fand er endlich eine, wo alles passte. Es war die Grundschule am Bürgerpark in Marzahn. Seitlich von der Rudolf-Leonhard-Straße gab es einen Parkplatz, der durch die vielen Bäume nur schwer einsehbar war. Dort parkte er und lief ein wenig in der Gegend herum.
Er musste nicht lange warten, bis ihm ein kleines Mädchen mit Schulranzen entgegenkam. Der Zufall wollte es, dass die Kleine ins Stolpern geriet und auf die Knie fiel. Ritterlich half er ihr auf die Beine und untersuchte die Wunden.
»Wie ich sehe, hast du dir wehgetan«, sagte er freundlich, »da sollte schnellstens ein Pflaster drauf, damit kein Schmutz hineinkommt.«
»Ja, in der Schule wird man mich versorgen.«
»Bis dahin ist es aber noch ein Stück. Dort auf dem Parkplatz steht mein Wagen. Und es ist vorgeschrieben, dass man einen Verbandskasten dabei hat. Komm, das geht ganz schnell.«
»Ich weiß nicht.«
»Ach, du hast doch nicht etwa Angst vor mir? Ich habe auch eine kleine Tochter, die etwas jünger als du ist und Lotte heißt. Wie alt bist du, acht oder neun?«
»Acht.«
»Und wie heißt du?«
»Annika Gerlach.«
»Das ist ein hübscher Name. Ich bin der Tom. Wohnst du hier in der Nähe?«
»Ja, da drüben in der Rudolf-Leonhard-Straße.«
»Dann hast du es ja nicht weit zur Schule. Ich kann dich auch zu deiner Mutter bringen, bevor die anderen Kinder etwas von deinem Missgeschick mitkriegen.«
»Nein, die schläft noch. Und später geht sie putzen. Aber wenn ich am frühen Abend nach Hause komme, ist sie wieder da.«
»Dann hast du heute Morgen gar kein Frühstück bekommen?«
»Nein, das kriege ich nie. Macht aber nichts. Im Hort, wo ich nach dem Unterricht auch hingehe, gibt es schon ab sechs Uhr Frühstück für die Kinder.«
»Na prima, einen Papa habt ihr wohl nicht?«
»Mein Papa ist von zu Hause ausgezogen, weil er und die Mama sich immer so viel gestritten haben. Und als die Mama dann noch zu trinken anfing …«
»Verstehe. Dann hast du es auch nicht immer leicht. Vielleicht willst du einmal meine Tochter kennenlernen. Wir könnten zusammen einen Ausflug machen, wenn du magst.«
»Hm …«
»Aber zunächst sollten wir deine Knie versorgen. Kannst du laufen, oder tut es zu sehr weh?«
»Es geht …«
»Na los, bevor es schlimmer wird.«
Der Mann, der sich Tom nannte, nahm Annika an die Hand und führte sie zum Parkplatz.
»Komm, krabble mal da auf die Ladefläche!«, sagte er, als er die Heckklappe geöffnet hatte, »siehst du, der Verbandskasten steht gleich links.«
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