»Schlaf gut, und träum was Süßes!«, waren seine einzigen Worte gewesen, die in ihren Ohren wie Hohn klangen. Noch dazu, wo er sie kalt mit emotionsloser Stimme vortrug. Würde sie jemals wieder ruhig einschlafen können? Ohne Angst vor dem nächsten Tag? Annika wusste es nicht und lag die halbe Nacht wach, bis sie doch schließlich hinübergedämmert sein musste.
An diesem Morgen war Ben für seine Verhältnisse sehr zeitig am Frühstückstisch. Valerie meinte, ihn erst in den frühen Morgenstunden nach Hause kommen gehört zu haben. Wahrscheinlich hatte er wenig oder gar nicht geschlafen.
»Wäre es sehr schlimm für euch, wenn ich wieder auszöge?«, fragte er unvermittelt.
»Ich hätte zwar eine Menge weniger Arbeit, aber das hatten wir doch schon mal.«
»Nur diesmal ziehe ich nicht in eine WG, sondern zu einer Frau.«
»Auch eine Studentin? Ist sie hübsch?«, fragte Hinnerk.
»Ist das deine einzige Sorge?«, ärgerte sich Valerie. »Er weiß noch nicht einmal, für welches Studium er sich entscheidet, aber schon mit Wei … Frauen rummachen.«
Ben hatte sich nach dem Abitur entschieden, an der FU das sogenannte EinS@FU – das Einführungs- und Orientierungsstudium der Freien Universität Berlin zu absolvieren. Dabei konnte man ein Jahr lang mehr als vierzig Studiengänge der FU in den Naturwissenschaften, Geschichts- und Kulturwissenschaften sowie in der Philosophie- und den Geisteswissenschaften kennenlernen, neue Interessen und Studienfächer entdecken, sich gezielt auf ein späteres Studium vorbereiten, anrechenbare Leistungen für ein nach-folgendes Studium erwerben und letztendlich ein Studium finden, das genau zu den eigenen Vorstellungen, Fähigkeiten und Zielen passte. So lautete der Werbetext der Universität. Valerie nannte es eine Maßnahme für Unentschlossene, doch Hinnerk sah die Chance, dass Ben sich auf diese Weise für das richtige Studium entschied.
»Ich mache nicht mit mehreren Weibern rum, sondern nur mit einem«, protestierte Ben.
»Wenn es wieder so ein Fehlgriff wie mit dieser Merle ist, dann sehe ich schwarz«, ließ Valerie nicht locker.
»Nun lass ihn doch seine eigenen Erfahrungen machen. Wir waren in dem Alter doch auch nicht anders«, sagte Hinnerk.
»Du vielleicht nicht, ich schon. Sonst hätte ich heute nicht ein Kind, sondern ein ganzes Dutzend.«
»Chantal kann man mit Merle nicht vergleichen. Sie ist einzigartig.«
»Das denkt man immer, wenn die Liebe noch frisch ist, mein Sohn. Was studiert sie denn?«
»Chantal ist Friseurin, verdient zusammen mit den Trinkgeldern so gut, dass sie sich eine kleine Zweizimmerwohnung leisten kann, und nachdem es mit uns bisher ganz gut läuft, hat sie mir angeboten, zu ihr zu ziehen.«
»Wenn die Friseurinnen heute noch so sind wie zu meiner Zeit, wirst du nicht der Einzige sein …«
»Ach, Mama, das hört sich an, als wäre sie eine Nutte. Und wenn es da noch andere Männer gab, schließlich hat sie mir das Angebot gemacht und nicht den anderen. Außerdem darf ich dich erinnern, dass ich seit Kurzem volljährig bin. Du kannst also gern deinen Senf dazugeben, erwarte aber nicht, dass ich mich danach richte.«
»Wie könnte ich deinen achtzehnten Geburtstag vergessen?«, fragte Valerie. »Am liebsten hätte ich deinem Vater die Augen ausgekratzt, als er dir den Motorroller geschenkt hat. Sein Glück, dass es kein Motorrad war.«
»Es soll Eltern geben, die schenken ihren Söhnen zum bestandenen Abi oder zur Volljährigkeit den Führerschein. Manche sogar ein Auto«, sagte Ben. »Nicht dass ich mich beklagen will, aber … Damit kein Missverständnis aufkommt … ich liebe meinen kleinen Flitzer in Schwarz und Silber, der tolle fünfundvierzig Stundenkilometer macht.«
»Aber lieber hättest du ein Auto gehabt, mitsamt dem Führerschein, schon verstanden«, sagte Valerie. »Man kann’s auch übertreiben. Und was den Führerschein betrifft: den hat dir Karen bezahlt. Wenn es auch nur ein Rollerführerschein war. Überhaupt haben sich deine Omas gegenseitig überboten, was das Zubehör wie Helm, Schutzkleidung und so weiter betrifft.«
»Für mich ist es immer noch seltsam, zwei Omas zu haben«, sagte Ben, »nichts gegen Tyra, aber …«
»Kinder haben im Allgemeinen zwei Großmütter. Nur du eben zwei mütterlicherseits. Und dabei hast du es wahrlich nicht schlecht getroffen.«
»Ich beklag mich ja auch gar nicht. Wittere doch nicht hinter allem, was ich sage, einen Vorwurf.«
»Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du alles so meinst wie du es sagst ...«
»Statt hier die Messer zu wetzen, solltet ihr euch vertragen. Zumal die gemeinsamen Tage unter einem Dach gezählt sind, wie es aussieht«, sagte Hinnerk.
»Genau, aber dein Sohn ist gedanklich ohnehin schon nicht mehr hier, sondern bei seiner Tussi.«
»Es ist auch dein Sohn, liebe Val.«
»Genau, und Chantal ist keine Tussi. Das möchte ich in aller Deutlichkeit bemerken. Dem Klischeebild einer Friseuse entspricht sie in keinem Fall.«
»Oh, Verzeihung, bisher konnten wir uns ja noch nicht selber davon überzeugen.«
»Das eilt auch nicht«, sagte Ben. »Nicht dass sie es sich noch anders überlegt, wenn sie ihre zukünftige Schwiegermutter kennenlernt.«
»Siehst du, das hast du nun davon«, feixte Hinnerk.
»Ach, ihr könnt mich alle beide mal kreuzweise!«
»Pass auf! Sonst wird dein Wunsch war, zumindest, was meine Person betrifft …«
Die Tage schienen endlos für Annika, zumal sie durch das fehlende Tageslicht nicht zwischen Tag und Nacht unterscheiden konnte. Computer oder Handy gab es nicht, und die Puzzles verloren schnell ihren Reiz. Neben Radio und Fernsehen und gelegentlich einer DVD waren die „Unterrichtsstunden“ mit Tom die einzige Abwechslung. Er paukte mit ihr Englischvokabeln, rechnete Matheaufgaben oder teilte mit ihr sein Wissen über Geografie und Geschichte. Hin und wieder ließ er sie auch mal ein Diktat in Deutsch oder Englisch schreiben oder einen Aufsatz.
Der Unterricht ließ Annika hoffen, dass sie am Leben bleiben würde. Denn was nützte ihr Schulwissen, wenn sie es nicht anwenden konnte, weil sie vorher starb? Tom gab sich alle Mühe und kochte sogar für sie. Das gelang nur nicht immer. Wie an diesem Tag.
»Was ist, warum isst du nicht? Hast du keinen Appetit?«, fragte er.
»Doch schon, aber das schmeckt so komisch. Ganz anders als bei Mama.«
»Du willst doch nicht behaupten, deine versoffene Mutter hätte für dich gekocht? Und wenn, dann garantiert nur aus der Dose oder ein Fertiggericht.«
»Trotzdem. Es hat wenigstens geschmeckt.«
Tom tickte von einem Moment zum anderen aus. Er fegte den Teller vom Tisch und brüllte sie an.
»So, der feinen Dame genügt nicht, was ich für sie koche? Ich reiße mir hier den Arsch auf, und Gnädigste macht lange Zähne. Dann wirst du eben ein oder zwei Tage hungern. Was meinst du, wie dir dann alles schmecken wird! Und damit du dich nicht allein am Kühlschrank bedienst, kette ich dich am Bett an. Los, komm!«
»Bitte nicht! Ich habe es doch nicht so gemeint«, wimmerte Annika. Doch es half ihr nichts. Er zerrte sie am Handgelenk in den Schlafraum und fixierte sie an Händen und Füßen mit Ketten.
Doch das Martyrium sollte keine zwei Tage dauern, denn schon in der Nacht kam er wieder und machte sie los.
»Dummes Mädchen«, säuselte er völlig verändert, »wirst schon noch lernen, dass es sich nicht lohnt, Onkel Tom zu ärgern.«
Dann ließ er die Hose vor ihr herunter und zog ihre kleine Hand zu seiner Scham.
»Fass ihn ruhig an. Er beißt nicht. Kannst ihn auch küssen. Das hat er besonders gern.«
Annika schüttelte angewidert den Kopf und flüchtete sich an die kalte Wand.
»Ist wohl alles ein bisschen viel für dich«, sagte er erstaunlich verständnisvoll und legte sich neben sie. »Das kommt schon noch, dass du Spaß dabei hast. Wir haben viel Zeit.«
Читать дальше